Genug gejammert: Die Gesellschaft und der Riss, der keiner ist
Wir gegen uns
Permanent lese und höre ich von der gespaltenen Gesellschaft, dass die Schere immer weiter auseinanderklafft und uns trennt in Arm und Reich, Rechts und Links, Konservative und Linksgrüne – dort die, hier wir. TV und Internet wiederholen allerorten das Narrativ von der Polarisierung und machen es sich und ihren Konsumenten damit gefährlich einfach, Position zu beziehen in einem System, das viel zu komplex und vielschichtig ist, um es sich an einem der beiden Ränder gemütlich einzurichten. Ich kenne viele, die aus dieser Bequemlichkeit nur schwer wieder herauskommen.
Es scheint nun aber die Zeit gekommen zu sein, in der es viele Menschen satthaben, sich die Stimmung im Land von einigen wenigen Schreihälsen an den äußersten Rändern und den ihnen aus verschiedensten Gründen geneigten Medien schlechtreden zu lassen.
Es gibt zu viele Menschen, denen es wirklich nicht gutgeht, das lässt sich nicht wegdiskutieren oder -bloggen. Da ist Hilfe vonnöten. Aber für den überwiegenden Teil von uns, ganz ehrlich und direkt: So beschissen sieht es gar nicht aus. Also hört auf zu jammern.
Laissez-faire? Non!
Vor einem Dreivierteljahr, ich gebe es zu, steckte ich bis zu den Knien in diesem fatalistischen Gedankensumpf, in dem mich die medialen Ausdünstungen denken und sagen ließen: Es bringt nichts, die Menschen in diesem Land sind zu träge und besitzen zu wenig Weitsicht, um das vielfältig drohende Unheil zu erkennen und dagegen aufzubegehren. Während die Lauten immer schriller schreien und die schweigende, allenfalls murmelnde Mehrheit übertönen, braut sich am politischen Horizont ein Unwetter zusammen, dessen Folgen nicht absehbar sind. Ich teilte sogar schulterzuckend den Standpunkt, dass zumindest eines der ostdeutschen Bundesländer im September einmal die rechte Landesregierung erhalten soll, die es zu großen Teilen wünscht, um in den folgenden Jahren möglichst rasch festzustellen, dass die Faschos so rein gar nichts auf die Kette bekommen.
Heute erschrecke ich vor mir selbst. Auch wenn ich unserer Spezies recht häufig nicht wohlgesonnen bin, hat die Mehrheit meiner Mitmenschen diese ablehnende Einstellung nicht verdient. Da gibt es so viele, denen das Wohl anderer sehr am Herzen liegt, egal welcher Herkunft, Religion oder Einstellung. Deshalb ist es absolut nicht vertretbar, alles auf sich zurollen zu lassen und darauf zu hoffen, dass auch die gefrusteten AfD-Wähler durch die Konfrontation mit den irrsinnigen Auswirkungen ihres Votums zur Räson kommen.
Derzeit machen zahllose Zitate großer Denker und Literaten im Netz die Runde, wie dieses von Erich Kästner. Ohne es überstrapazieren zu wollen, gehört es hier hin, denn es mahnt eindringlich, warum man den Dingen eben nicht ihren Lauf lassen darf. Dies sagte er am 10. Mai 1958 bei der Tagung des PEN Deutschland anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung:
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“
Erich Kästner
Click me, watch me
Man darf nicht einfach alles laufen und sich selbst überlassen. Für Politik und Gesellschaft gilt das ganz besonders. Die aktuelle Bundesregierung hat gewiss ein Problem, aber sicher sind das nicht die Ideen und Pläne, die sie aller Widerstände zum Trotz auf den Weg zu bringen versucht. Die mit diabolischer Lust geschmähte Ampel hat schlichtweg Schwierigkeiten, ihre Errungenschaften werbewirksam zu kommunizieren.
Natürlich stehen ihr dabei vor allem die Social-Media-Troll-Armeen und reichweitengeile Medienhäuser im Weg. Von Letzteren sind auch die Öffentlich-Rechtlichen nicht ausgeklammert. Da gehen in Folge des unüberhörbaren Weckrufs, den die Enthüllungen von Correctiv darstellen, mehrere hunderttausend Menschen auf die Straßen, und was machen ARD, ZDF und Co.? Sie hieven in Talkshows die AfD-Granden auf die Stühle, die sich dann noch lang und breit erklären dürfen. Reporter interviewen quasi-investigativ auf dem Gehsteig vor irgendwelchen Treffen Angehörige dieser Partei und werden doch nur mit selbstgefälligen, polemisch geschwängerten Kommentaren oder der Verdrehung von Tatsachen bis hin zur – mimimi – farbenfroh ausgestalteten Opferrolle abgespeist.
Damit nicht genug, entblödet sich neben anderen seiner Fraktion auch Friedrich Merz nicht, auf allem rumzuhacken, was rot-gelb-grün ist, bei vollem Bewusstsein vergessend, dass seine Unionskolleg:innen sechzehn Jahre lang durch Aussitzen, Verschleppen und Verschlafen einen ungeheuerlichen Teil zu dem beigetragen haben, was der Herr nun durch den Dreck zieht. Ganz nebenbei darf die Ampel noch die Scherben der Coronapandemie zusammenkehren, während sie mit der anderen Hand das Leck in einem Gasrohr zuhält, dessen Ventile die Vorgängerregierungen nur zu gern aufgedreht haben. Zum Kotzen.
Tu Gutes und rede drüber
Dabei wäre es so einfach, zwischen all dem braun-schwarzen Geheule und Geschrei in den Nachrichten und Talkshows das Erreichte mal abzufeiern. Statt „Wirtschaft vor acht“ mal „Gutes vor acht“. In Zahlen ausgedrückt, kommt die Bilanz der Ampel nämlich gar nicht so schlecht weg (Studie: Ampelregierung setzt trotz Streits viele Versprechen um auf tagesschau.de), detaillierter wird es beim so genannten SPIEGEL Ampelradar. Sieht auf den ersten Blick nicht so überzeugend aus, allerdings bin ich hier nicht sicher, ob der Artikel vom Dezember 2022 stammt (in der Suche) oder vom Oktober 2023 (im Artikel). Wie auch immer, die Ampel ist erst seit zwei Jahren am Start, macht euch selbst ein Bild und vergleicht, was Vorgängerregierungen in der gleichen Zeit umsetzen konnten.
Und wenn es die Medien nicht hinbekommen, dann sollten die Damen und Herren eben selbst aus dem Halbdunkel der Bühne treten und zum Mikro greifen bzw. es den Schreihälsen aus den Händen reißen. Ich kenne es ja selbst, ich bin auch nicht so die Rampensau und freue mich äußerlich eher so lala über Lob für eine umgesetzte Webseite oder ein geschriebenes Buch, während ich innerlich jubelnd durch die Decke gehe. Kann ich mir leisten, die da oben sicher nicht.
Wer mal eine Rede von Robert Habeck angehört hat, bspw. die Rede zu Israel und Antisemitismus nach dem Massaker der Hamas, für die er sogar einen Preis erhalten hat, der weiß, dass wir einige gescheite Köpfe in der Regierung haben. Unser Wirtschaftsminister ist sich auch nicht zu fein, bei Bürgern anzurufen, die sich über die Arbeit seines Ministeriums beschweren. Dass der Mann im Gegenzug in seiner Freizeit auf einer Fähre von wütenden Menschen bedrängt und bedroht wird und das Bashing der kompletten Regierung und vor allem der Grünen im Netz unerträgliche Ausmaße angenommen hat – ich möchte wissen, wie man das erträgt.
Kein Plan
Hilfreich ist für mich stets die ungefähre Ahnung, dass wir über allem Geschrei von rechts die leisere, nicht mal schweigende mehrheitliche Mitte nicht hören können. Oder konnten, denn nun wird sie laut. Und es bewegt sich was: Mit aufkeimender Hoffnung verfolge ich die Entwicklung der Umfragezahlen. Zumindest auf Bundesebene gibt es bemerkenswerte Knicke in den Kurven.
Abgesehen davon: Lange Zeit schon bin ich auf der Suche nach Erklärungen dafür, wie Menschen dermaßen empathielos, selbstsüchtig und skrupellos sein können, wie wir sie an vielen politischen Rändern gerade erleben, egal ob hinter dicken Hotelmauern in Potsdam oder auf der Straße im Ort, unter Parteimitgliedern oder willigen Wählern. Der folgende Artikel nähert sich diesem Phänomen von der wissenschaftlichen Seite: https://katapult-magazin.de/de/artikel/jeder-zehnte-ist-ein-arschloch Damit wird auch klar: Mit der Arschlochquote von zehn Prozent müssen wir klarkommen.
Wie so oft werde ich zynisch und ein bisschen emotional und sehe mich nicht nur deshalb nicht in der Lage, eine kurze und knackige Lösung für das alles zu präsentieren. Außerdem hätte ich die Hebel dafür gar nicht.
Christian Stöcker hat einen Ansatz für meine Begriffe fein zusammengefasst und formuliert sogar fünf Maßnahmen, die einiges Potenzial bergen. Allerdings auch Konfliktpotenzial, denn einige der Protagonisten, besonders auf der politischen Bühne, müssten dafür nicht nur ihren Arsch hochkriegen, sondern diesen auch ordentlich bewegen. Weg vom rechten Rand. Wir werden sehen.
Die Kluft ganz rechts
Es gibt keinen Riss in der Gesellschaft, der diese in zwei Hälften teilt. Wenn es überhaupt diese Kluft gibt, dann ist sie – bezogen auf Diversität, Toleranz, Respekt – irgendwo ziemlich weit rechts. So entstehen keine Hälften, sondern ein sehr solides soziales Gefüge auf der einen Seite und daneben extreme Randgruppen. Letztere sind kleiner, als ihre Lautstärke uns weismachen will. Dort stehen nicht die 33 Prozent potenzielle Wähler, wie sie derzeit in den Wahlumfragen von Sachsen und Thüringen prohezeit werden. Viele stehen noch auf der wesentlich größeren Seite, haben sich aber von dieser aus Frust, Unwissenheit, Verunsicherung und einer Vielzahl individuellerer Gründe abgewandt und liebäugeln mit den vermeintlich einfachen Lösungen der Rechten.
Wie viele von dieser Gruppe dazu überredet werden können, sich wieder dem inzwischen laut gewordenen Lager der Vernunft, der Anhänger einer vielfältigen, freiheitsliebenden Demokratie zuzuwenden, hängt auch davon ab, wie wir ihnen begegnen. Und ob es gelingt, die Rückwärtsgewandtheit und Lügen der faschistischen Schreihälse offenzulegen, denen so viele Menschen nach wie vor auf den Leim gehen.
Auf dem größeren Teil gibt es gewiss auch Risse, feine wie besorgniserregende, manchmal scheinbar unüberbrückbar. Diese können geheilt werden, durch Aufeinanderzugehen, den Austausch, das Zuhören, den Respekt und das Nachdenken. Solange miteinander gesprochen wird, ist nicht alles und jeder an die Braunen jenseits der Kluft verloren.
Es muss nicht die Demo vor dem Reichstag sein. Viel wichtiger: Es fängt bei dir an, deiner Familie, deinen Nachbarn, deinen Arbeitskollegen. Lang genug geschwiegen.
Wenn dieser Wille, dem diskriminierenden, menschenverachtenden Gedankengut der Rechtsextremisten und ihren wahnsinnigen Plänen die Stirn zu bieten, nicht versiegt und auch in den nächsten Monaten und Jahren lautstark auf die Straßen getragen wird, dann hat diese Gesellschaft eine Chance. Und Erich Kästner behält am Ende seines Gedichts „Denn ihr seid dumm“, das er schon 1932 schrieb, hoffentlich recht:
Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen.
Erich Kästner
Denn ihr seid dumm, und seid nicht auserwählt.
Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt:
Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!
Danke fürs Lesen!