Schuld sind stets die anderen

Schuld sind stets die anderen, nicht wahr?

Anlass zu diesem Text war eigentlich die Datenpanne bei Motel One vor ein bis zwei Wochen. Im Licht der jüngsten Ereignisse in Nahost erscheint dieser Vorfall geradezu banal. Je mehr ich über das Thema Schuld jedoch nachdenke, umso mehr kristallisiert sich für mich heraus: In fast allen Geschehnissen spielt Schuld eine Rolle, und wie mit ihr umgegangen wird, hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert.

Gefühlt bloggt gerade jeder über den Krieg in Nahost. Ganz ausblenden kann auch ich diesen nicht. Hier will ich versuchen, meine Gedanken zum aktuellen Geschehen zu sortieren und auszudrücken und der Frage nach Schuld und Verantwortung nachzugehen.

Die Bilder wiederholen sich

Soldat mit Tornister
Image by Amber Clay from Pixabay

Nicht einmal zwei Jahre ist es her, da saßen wir vor den Bildschirmen und verfolgten fassungslos, wie russische Truppen in die Ukraine einmarschierten und den Krieg zurück nach Europa brachten. Die Bilder der Gräueltaten in Bachmut, das Leid der Menschen in zerstörten Städten sind noch allzu präsent. Mir fehlen die Worte, um meine Gefühle auszudrücken, wenn mir die Szenen wieder vors Auge gleiten.

Und heute verfolgen wir wieder voller Bestürzung die Nachrichten in Internet und TV und sind nicht in der Lage, zu begreifen, welche Katastrophe über Israel am vergangenen Wochenende hereingebrochen ist. Wie so oft kommen mir ohne mein Zutun Zeilen von Liedern in den Sinn. Die folgenden könnten treffender nicht sein, auch wenn sie vierzig Jahre alt sind:

I can’t believe the news today
Oh, I can’t close my eyes and make it go away

How long, how long must we sing this song?
How long? How long?

U2 – Sunday Bloody Sunday

Die Politik des Staates Israel besonders in den vergangenen Jahren unter Netanjahu muss man nicht schönreden, da gibt es Anlass zu Kritik ohne Ende. Fakt ist allerdings: Völlig aus dem Nichts die Grenze zu überschreiten, Kinder, Frauen, Alte, Wehrlose aus ihren Häusern zu zerren, als Geiseln zu nehmen oder sie niederzuschießen, zeichnet keinen Helden oder Freiheitskämpfer aus. Diese Handlungen beschreiben ein gefühlloses Monster. Kein lebendes Wesen will mir einfallen, mit dem ich diese gewissenlosen Mörder vergleichen könnte. Im Tierreich gibt es so etwas nicht.

Inhaltswarnung

Dieser Text könnte Informationen enthalten, die für sensible Personen nicht geeignet sind. Falls dir sensible Themen (z.B. Krieg, Gewalt, Depression, Suizid, Trauma) nicht liegen, dann überspringe diesen Abschnitt.

Der Nahostkonflikt und dessen religiöse und historische Ursachen und Verflechtungen füllen ganze Bücherwände. Dem will ich mich hier gar nicht widmen, nur so viel: Wenn die oben beschriebenen grausamen Taten im Namen eines Gottes durchgeführt werden, dann hat dieser jedes Existenzrecht verwirkt.

Die anderen sind schuld

Was in mir über dem niederschmetternden Kriegsgebrüll nachhallt, sind die hier und da gesendeten Begründungen der Angreifer für den barbarischen Überfall: Schuld sei Israel, das mit seiner Politik der Unterdrückung der Hamas gar keine andere Wahl gelassen habe, als sich zu „verteidigen“. Das musste ich erst einmal sacken lassen. Nach dieser Lesart ist der Staat Israel also selbst für den Tod von Hunderten seiner Bürger verantwortlich.

Das Schema ist nicht neu, oben steht bereits der sehr ähnliche Fall des Ukraine-Kriegs. Auch dieser kam trotz aller im Nachhinein gedeuteten Vorzeichen sehr überraschend. Und Putin entblödete sich nicht, den Anlass für seinen Überfall auf das Nachbarland mit dem Bestreben der NATO nach einer Erweiterung ihres Einflussbereichs in Osteuropa zu begründen. Die Schuld liegt also beim transatlantischen Verteidigungsbündnis. Als gut informierter Westeuropäer klingt das so: „Ich kann nix dafür, die haben angefangen.“

Fake News
Image by memyselfaneye from Pixabay

Schlimm daran ist, dass nicht bloß einzelne Staatsoberhäupter diesen selbstverzapften Blödsinn glauben. Sie besitzen Macht und Mittel, die Saat dieser – für uns – offensichtlich unverschämten Lüge im Volk zu verbreiten. Die Propagandamaschine läuft im ehemaligen Zarenreich gut geölt, und Parallelen zu den Apparaten im Dritten Reich sind nur allzu deutlich. Wenn sich dann noch religiöser Fanatismus dazugesellt, ist der Boden zu größeren Abscheulichkeiten bereitet. Das führt so weit, dass sich die derart Beeinflussten einer Schuld ihrer politischen oder religiösen Anführer überhaupt nicht mehr bewusst sind und deren Handeln nicht mehr infragegestellt, sondern auch noch befürwortet wird.

Kurz muss ich einschieben, dass es inmitten dieser Gesellschaften natürlich Widerstand gibt und nicht jeder den aufgetischten Lügen aufsitzt. Es wäre falsch und geradezu katastrophal, alle Palästinenser zu Terroristen zu deklarieren. Das Gleiche gilt für die andere Seite: Nicht alle Israelis stehen hinter der Regierung, wie die Demonstrationen der letzten Monate gezeigt haben. Und auf dem Musikfestival im Kibbuz Re’im, das zum Schauplatz des blutigen Massakers der Hamas an Hunderten jungen Menschen wurde, tanzten Friedensaktivisten und Reservisten, die aus Protest den Dienst verweigerten.

Schuld für den Rechtsruck? Natürlich die Regierung

Cut. Anderes Thema, ähnliche Verhaltensweisen: Nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern am 8. Oktober ließen die Begründungen der Parteigranden aus den Ampelparteien für den Verlust von Wählerstimmen nicht lange auf sich warten. Hängengeblieben ist bei mir das trotzige Gerede des FDP-Vorsitzenden Wolfgang Kubicki. Das in seinen Worten enthaltene Blaming geht in Richtung Berlin und schließt damit die anderen beiden Parteien ein. Wohlwollend könnte ich ihm zugestehen, dass ja auch die FDP in der Regierung sitzt, doch die Art des Vortrags riecht etwas zu penetrant nach einer Schuldzuweisung an die beiden größeren Koalitionspartner.

Die aktuelle Ampelpolitik liegt Kubickis Empfinden nach, und vermutlich belegt er das irgendwo, konträr zum Meinungswillen der Bevölkerung. AKW-Frage, Heizungsgesetz, Migration, alles Käse, sagt er. Dass seine Partei in den vergangenen beiden Jahren allerdings besonders in Umweltthemen vor allem durch ihre Blockadehaltung geglänzt und zum aktuellen zerrissenen Stimmungsbild in unserer Gesellschaft beigetragen hat, wird sowohl unter seinen Kollegen als auch gefühlt in den Medien gern totgeschwiegen.

Wenn man nur so ungefähr halb schuld ist

Nun komme ich doch noch zur Hackerattacke auf Motel One. Da flatterte Ende letzter Woche eine Mail in mein Postfach, in der das Unternehmen Art und Umfang des Angriffs auf seine IT-Infrastruktur offenlegte und dafür um Entschuldigung bat. Als IT-Dienstleister weiß ich diese Transparenz zu schätzen, auch wenn sie seit etwa fünf Jahren Gesetz ist. So weit, so gut.

Am selben Tag noch stolperte ich über die entsprechenden Meldungen in der Presse, und siehe da: Eine gewisse Demut ist erkennbar, trotzdem kann sich der Firmengründer nicht zurückhalten und sieht eine Teilschuld auch bei der Regierung.

Ich habe es kürzlich auf meinem Mastodon-Profil gepostet: Klar, nach einem Einbruch in meine Wohnung ist nicht vorrangig das Fenster das Problem, sondern der Staat.

Die Suche nach Sündenböcken ist von allen Jagdarten die einfachste.

Dwight D. Eisenhower

Ist Schuld eine Sache der jeweiligen Kultur?

Bei den Begriffen Schuld und Verantwortung kommen mir damit assoziierte Themen wie Ehre und Sühne in den Sinn. Es zeugt von Größe, wenn sich Menschen, denen Fehler unterlaufen sind, dazu bekennen und bei Geschädigten um Entschuldigung bitten. Die Königsdisziplin liegt darin, Konsequenzen aus diesen Fehlern zu ziehen. So trat die EKD-Vorsitzende Margot Käßmann zurück, weil sie unter Alkoholeinfluss Auto gefahren war. Carl-Theodor zu Guttenberg nahm seinen Hut nach einer Plagiatsaffäre. Weitere Beispiele, besonders aus der Politik, muss man aber suchen. Gerade in diesem Metier klammern sich die Herrschaften mit Vorliebe trotz bemerkenswerter Verfehlungen an ihre Stühle.

In anderen Kulturen weltweit werden Dinge wie ein Ehrenkodex ernster genommen. Man muss nicht zurück in Japans Vergangenheit gehen und die inzwischen verbotene Praxis des Seppuku bemühen, bei uns besser bekannt als Harakiri. Wenige Wochen nach dem tödlichen Attentat auf den früheren Regierungschef Shinzo Abe trat der Chef der nationalen Polizeibehörde zurück. In manchen Firmen in Fernost räumen selbst hochrangige Manager bei mangelhaftem Unternehmenserfolg bisweilen ebenfalls recht zügig ihr Büro, inklusive Verbeugung.

Entschuldigung

Wann ist uns das Bewusstsein für die eigene Verantwortung abhanden gekommen? Warum fällt es uns so schwer, die eigene Schuld einzugestehen und beim Geschädigten um Verzeihung zu bitten? Ich habe ein paar Vermutungen.

Es zeugt von Schwäche, Fehler zuzugeben. Wir zeigen damit unsere Angreifbarkeit, machen uns verwundbar und stellen uns moralisch auf eine Ebene unter die vermeintlich überlegenen Beurteilenden. Wenn wir hingegen jede Schuld von uns weisen oder es zumindest hinbekommen, anderen eine Teil- oder Mitschuld zuzuschustern, relativiert das unsere Vergehen oder Mängel. „Aber die anderen …“ Schon merke ich, dass ich das Thema Whataboutism streife, das ich in einem älteren Beitrag behandelt habe.

Und jetzt kommen die, die mir sagen: „Ja, aber du hast das doch auch nicht im Griff, nä?“ Natürlich nicht. Ich habe auch schon viel Mist gebaut, für den ich nicht geradegestanden habe, habe verbal über die Stränge geschlagen, auch wenn man mir das nicht zutraut. Für Entschuldigungen war es nicht selten schnell zu spät. Aber diese Ereignisse haben mich trainiert, mir gezeigt, dass man es besser machen kann.

Tatsächlich hilft mir das Bewusstsein um Verantwortung – und dieses Wort ist weit weniger negativ behaftet als Schuld – bei der täglichen Arbeit und darüber hinaus. Das Eingestehen eines Fehlers, einer Nachlässigkeit, entwaffnet das Gegenüber, wenn man ihm oder ihr das Gefühl vermittelt, mit dem parallel gewonnenen Wissen besser zu werden, zu lernen. Gerade im Geschäftlichen, aber auch im privaten Zwischenmenschlichen hilft der konstruktive Austausch in solchen Augenblicken mehr als die gegenseitige Schuldzuweisung, aus der rasch die emotionale Eskalation folgt.

Ich wünschte, mehr Menschen würden sich dies bewusst machen. Dass das im Großen funktioniert – eine Utopie.
Ja, wie lang müssen wir dieses Lied noch singen?

Peace


Beitragsbild von Gerd Altmann from Pixabay

2 Kommentare

  • Hallo lieber Stefan,

    ein (wieder einmal) richtig starker und toller Artikel von dir. Ich lese deine Zeilen gerne, denn sie regen zum eigenen Nachdenken an und so kommt man ins Grübeln.

    Vielleicht eine kurze Anmerkung und ein Gedanke zu dem Thema „Schuld“ von mir:

    Ich glaube, viele Leute können sich einfach nicht entschuldigen, weil das Einräumen eines eigenen Fehlers für sie Konsequenzen nach sich zieht, die sie um ihre eigene Karriere bringen. Die Gesellschaft ist schnell, wenn es darum geht, etwas zu fordern. Also wird lieber vertuscht, gelogen und unter den Tisch gekehrt, als zu sagen: „Hey, hier habe ich einfach mal Mist gebaut“.

    Das erinnert irgendwie an kleine Kinder, die lieber lügen, statt die Wahrheit zu sagen, weil sie fürchten, sie könnten Ärger bekommen.

    Vielleicht müssen wir also auch mal akzeptieren, dass nicht mit jeder Entschuldigung auch gleich eine Forderung einhergehen kann. Natürlich hängt das aber auch von der Form der Entschuldigung ab und davon, wofür sie ist.

    Kann man einem Mörder, einem Kriegstreiber, einem Diktator oder einem Frauenschläger vergeben? Schwierig ….

    • Danke für dein Feedback, lieber Giannis!
      Sicher gibt es Grenzen, jenseits derer ein Schuldeingeständnis persönliche Konsequenzen nach sich zieht und wo dieses keine Vorteile für beide Seiten bringt. Ob man damit dann leben kann, bleibt jedem selbst überlassen.
      Und selbstverständlich gibt es auch die harten Limits, hinter denen keine Entschuldigung jemanden von seinen Taten reinwäscht. Du bringst hier natürlich die ganz krassen Fälle, aber sie verdeutlichen hervorragend, dass unser soziales Gefüge nur so lange reibungslos funktioniert, wie wir uns innerhalb eines ethisch und moralisch einwandfreien Rahmens bewegen.
      Zu den Kindern, die lieber lügen als die Wahrheit zu sagen, drängt sich mir die Frage auf: Wird uns ein solches Verhalten in die Wiege gelegt? Oder leben die Erwachsenen der nächsten Generation dieses vor? Ich tendiere zu Letzterem.