Computerschrift: Bitte warten, Please wait, Ladebalken mit 33%

Warten

Wir haben keine Zeit. Warten, ohne etwas zu tun, wird zunehmend unerträglich. Jede Sekunde unseres Daseins ist inzwischen angefüllt mit Aktion und Reaktion. Und wenn sich eine Lücke im steten Drang nach Action auftut, dann greifen wir zum Smartphone, damit ja kein Leerlauf entsteht.

Diese Woche saß ich beim Zahnarzt, Routine-Check. Damit dieser Termin in meinem Tagesablauf als Selbständiger keine allzu großen Unterbrechungen verursacht, bin ich gern ziemlich pünktlich. Das bedeutet, ich erscheine nicht sehr viel vor der vereinbarten Zeit, und Verspätungen leiste ich mir praktisch nie. Wenn mir Letzteres doch hin und wieder droht, dann rufe ich bei den Beteiligten des Termins an und teile ihnen die voraussichtliche Ankunftszeit mit. Klingt ein bisschen piefig-deutsch, ich weiß. In anderen Ländern und Kulturen gehen die Menschen in solchen Situationen gelassener vor.

Zum Nichtstun verdammt

Um acht Uhr dreißig saß ich also bereits auf dem Stuhl im Behandlungszimmer, hatte mir von der Assistentin den unvermeidlichen Latz umbinden lassen und harrte der Dinge. Im Nebenzimmer hörte ich den Arzt im Mundwerk eines Leidensgenossen werkeln. Seine Tätigkeit begleitete er mit diversen Erklärungen und zur Auflockerung mit eingestreuten lustigen Sprüchen. Derweil schritt der Tag voran. Mein Smartphone ruhte untätig in den Tiefen des Rucksacks, den ich platzsparend und nicht ohne Weiteres erreichbar an einen Wandhaken gehängt hatte. Derart zum Nichtstun verdammt, gab ich mich notgedrungen der Betrachtung meines unmittelbaren Umfelds hin.

Zweieinhalb Minuten später hatte ich die Gerätschaften analyisert, deren Zweck mir größtenteils fremd blieb. Und in dem lustigen Bild, das zur Ablenkung von allzu bekannten Geräuschen während der Behandlung an der Decke montiert war, hatte ich unter den hundert Hunden die Katze bereits entdeckt. Glaubte ich. Die übrige Einrichtung wusste mich kaum in ihren Bann zu schlagen. So interessant ist die schematische Darstellung des menschlichen Gebisses nun doch nicht. Der Blick aus dem gegenüberliegenden Fenster präsentierte die weiß verputzte Fassade des Nachbargebäudes.

Da keimte dann doch der Samen des Unwillens und die Frage, wozu ich eigentlich Termine vereinbarte, wenn diese nicht eingehalten wurden. Immerhin saß ich schon geschlagene zehn Minuten auf dem Stuhl, die ich gewiss sinnvoller hätte verbringen können. Aber stimmt das denn?

Keine Zeit zu warten

Stau, aneinandergereihte Fahrzeuge von hinten mit leuchtenden Bremslichtern
Image by shilin wang from Pixabay

Je älter ich werde, umso öfter ertappe ich mich bei dem drängenden Gedanken, dass meine Zeit begrenzt ist und sinnvoll gefüllt sein muss. Jede Minute muss einem Zweck folgen, einem Ziel untergeordnet sein, sich in Produktivität und einem daraus folgenden Ergebnis messbar darstellen lassen. Das spiegelt einerseits mein Grundverständnis eines Arbeitnehmers wider, der ich jahrelang gewesen bin, zum anderen mein Dasein als Selbständiger. Schlicht und ergreifend: Wenn ich nicht arbeite, habe ich kein Einkommen. Das Warten auf Ereignisse oder Menschen hat in diesem Konzept keinen Platz. Und doch ist es unausweichlich, wie diese Zusammenstellung zeigt.

Wie eingangs erwähnt, gestatte ich mir Verspätungen selbst nicht und kann mit dem Warten an sich wenig anfangen. In jenem Moment auf dem Behandlungsstuhl in der Zahnarztpraxis befiel mich diese grummelnde Ungeduld wieder einmal, das Gefühl, dass hier jemand meine Zeit verschwendete.

Nun ist es nicht so, dass mein Tag minutiös durchgetaktet ist. Meine Zeitpläne erstelle ich selbst, und strenggenommen sind es nicht einmal welche. Am Abend entsteht in meinem Kopf eine grobe Liste der Dinge, die am Ende des nächsten Tags erledigt sein sollen. Manchmal gibt es diese Liste auch erst am Morgen selbst. Ich habe keine festen Arbeitszeiten, sitze tendenziell länger am Schreibtisch. Das liegt auch daran, dass ich zwischendurch berufsfremden Tätigkeiten nachgehe, sei es Bloggen oder Nachrichtenlesen. Mein Tagesablauf erscheint unter diesen Gesichtspunkten auf den ersten Blick chaotisch. Ich empfinde ihn sehr dynamisch und äußerst produktiv.

Leerlauf? Gibt es nicht

Es war keine bahnbrechende Erkenntnis, als mir auf dem Stuhl beim Arzt klar wurde, dass ich nicht Opfer der Willkür oder des Schicksals war. Ich bin weder religiös noch esoterisch tief verwurzelt, wenn überhaupt.

Immer wieder stolpere ich über Ratgeber, die mir die Meditation schmackhaft machen wollen. Dabei kommt auch das Ziel zur Sprache, einmal nichts zu denken. Klingt einfach, gelingt aber nur mit Mühe, und unbedarften Hektikern wie mir praktisch gar nicht. Einfache Atemübungen sollen einen, oft genug wiederholt, irgendwann ans Ziel bringen.

Da ich gerade nichts zu tun hatte, probierte ich das abwechselnde Einatmen durch das eine und das Ausatmen durch das andere Nasenloch aus, zunächst mit per Finger zugehaltener Nasenflügel, anschließend ohne Zuhilfenahme der Hände. Klingt komisch und ist physikalisch-biologisch auch nicht möglich, aber der bloße Versuch und die Konzentration darauf rückt das Denken in den Hintergrund.

Du hast es probiert, nicht wahr?

Denken als Tätigkeit, das Warten als Begleiterscheinung

Ohne mein Zutun geriet ich ins Denken, Hirnen, Ideen schmieden. Als Autor bin ich immer auf der Suche nach Ideen für meine Romane, Ereignisse, die meinen Figuren widerfahren können, skurrilen Eigenheiten der Charaktere, die sich ungezählt bei meinen Mitmenschen finden. Besonderheiten und Unscheinbares der Orte, die ich besuche, fließen in meine Geschichten ein. So entsponn sich, während ich auf dem Stuhl saß, ein neuer Gedanke zu dem Roman, an dem ich gerade schreibe, keimte auf wie der Schössling eines Baums im Wald und fing schon gleich an, sich zu verzweigen.

Und – schwupps – war eine halbe Stunde um und der Zahnarzt stand im Raum. Er hätte sich noch ein bisschen Zeit lassen können.

Ich versuche, Wartezeiten nicht mehr als Belastung zu betrachten. Sie geben mir den Platz, meine Gedanken schweifen und auch sich setzen zu lassen. Wir brauchen diese Spannen für Müßiggang und Erholung genauso wie für die Entwicklung neuer Ideen und das Auftanken neuer Energie. Nichts anderes machen unser Körper und unser Geist während des Schlafs. Wie oft wache ich morgens auf und habe das Gefühl, mein Hirn hätte in der vergangenen Nacht aufgeräumt.

Einfach mal nichts tun

Mir fällt bei dieser Gelegenheit Loriots zeitlos lustiger Sketch „Ich mache nichts“ ein, den gewiss viele kennen. Das nur zwischendurch.

In unserem Alltag, vollgestopft mit multimedialem Input, hat das Warten keinen Platz mehr. Und wenn es uns aufgezwungen wird, am Bahnhof, im Wartezimmer beim Arzt, in der Schlange im Supermarkt, in der Hotline am Telefon, im Stau, dann füllen wir es mit mehr oder weniger sinnstiftenden Tätigkeiten am Smartphone. Der Geist findet so keine Gelegenheit mehr für Kontemplation und Reflexion, geschweige denn die Betrachtung unserer Umwelt.

Mein Smartphone liegt oft stummgeschaltet herum, meist in einem anderen Raum. Bei vielen Gelegenheiten, zu denen ich das Haus verlasse, habe ich es nicht einmal mit dabei. Und ich vermisse es nicht. Stattdessen nehme ich mir Zeit, die Dinge zu betrachten, die mich umgeben, und den Menschen zuzuhören, die meinen Weg kreuzen. Vielleicht finden sie ihren Weg in meine Geschichten. Und wenn nicht, dann bereichern sie mich trotzdem auf die eine oder andere Weise.

Ich hoffe, ihr findet hin und wieder die Zeit, abzuschalten (nicht nur das Smartphone) und Augen und Ohren dem Geschehen und den Menschen um euch herum zu widmen. Es kann eine Bereicherung sein.

2 Kommentare

  • Ach Stefan,

    was ist das nur mit dir und deinem Blog? Ich fühle mich einfach daheim hier und lese deine Texte so gerne. Sie sind so voll an Gedanken, aber nicht aufdringlich oder belastend, eher angenehm erinnernd und wachrüttelnd. Vielen, vielen Dank dafür.

    Mein Vater fuhr früher gerne über Tag irgendwo „Kaffeetrinken“ und das nicht, weil wir bei uns daheim keinen hatten, sondern weil er das mit etwas verband, was er „Menschen kucken“ nannte. Das fand ich toll. Einfach mal schauen, beobachten, zusehen, das liebe ich bis heute.

    Und Begegnungen sind ein tolles Thema, eines von dem ich mich gerade frage, ob es nicht auch auf den meinen Blog passen könnte. Jedenfalls mache ich heute mal eine Pause im Schreiben und weil wir mir dieser Text so gefällt, werde ich ihn doch gleich mal bei Facebook bewerben.

    Denn auch du, dieser Blog, deine Doreen und das alles hier, es steht durch eine Begegnung!
    Hab einen tollen Tag!

    Liebe Grüße,
    Giannis

    • Lieber Giannis, vielen Dank fürs Vorbeischauen und deine Worte! Es freut mich, dass meine niedergeschriebenen Gedanken dich so bewegen.

      „Menschen kucken“ trifft es so herrlich, das hätte ich gern in meinen Text mit aufgenommen. Es klingt ein bisschen nach Trainspotting, eben mit Menschen, im positivsten Sinne.

      Vielen lieben Dank auch fürs Teilen auf Facebook.