What about Whataboutism?
Schon gehört? Whataboutism? Vorsicht, nicht gleich antworten, vielleicht ist auch das gleich wieder Whataboutism!
Ehrlich, ich habe es versucht: Ich möchte mich neben dem alltäglichen Austausch mit meinen direkten Mitmenschen auch im Internet an Diskussionen beteiligen. Ich streue hier und da einen Kommentar in Facebook ein und scheue mich auch nicht, unangenehmen Themen mit Kritik zu begegnen. Kritik stecke ich auch ein und versuche, Reaktionen auf meine Beiträge in Inhalt und Form zu verstehen, und bemühe mich um Reflektion.
Ich verliere die Motivation dazu, die Lust, den Mut. Warum?
Über die verhärteten Fronten verschiedener Meinungslager habe ich an anderer Stelle schon geschrieben. Facebook war für mich immer wieder Referenz, um mir ein Bild über allgemeine Stimmungen zu machen, auch abseits meiner Filterblase. Oft ließ mich das kopfschüttelnd und ratlos zurück. Die Zeit und Energie, mich in laufende Diskussionen einzuklinken oder eine solche aufgrund eines Posts anzustoßen, hatte ich meist nicht. In den vergangenen Monaten habe ich es dann doch hin und wieder getan, auch um dem aufkeimenden Gefühl entgegenzuwirken, untätig zu sein. Die eigene Blase kann schon gemütlich sein.
Fakten oder Fake?
Ein guter Freund von mir – nennen wir ihn Al (Gruß an Paul Simon) – ist Verfechter der E-Mobilität und streut unermüdlich seine fundierten Statements in die Threads einschlägiger User. Man kann durchaus behaupten, Al hat es sich zum Ziel gemacht, Gegner von Elektrofahrzeugen von den Vorzügen der Technik zu überzeugen. Er wird dabei selten ausfällig oder anmaßend, es sei denn, sein Gegenüber provoziert dies. Mein Freund liefert Fakten in Form von weit verbreiteten, überprüfbaren Videos sowie Links zu renommierten Webseiten. Dass sein Tun beim Gegenüber Erfolg in Form von Einsicht oder zumindest Nachdenken zeitigt, konnte ich bisher kaum feststellen. Umso mehr zolle ich ihm Anerkennung für seine an den Tag gelegte Unermüdlichkeit und Geduld.
Im Verlauf eines von ihm angestoßenen Threads bin ich auf der Profilseite eines AfD-Politikers gelandet, der sinngemäß behauptet: Die dreckigsten Städte werden von den Grünen regiert. Dort habe ich meinen wohlmeinenden Senf abgesondert, ebenfalls in Form von Statistiken von offiziellen Webseiten, die bspw. in Stuttgart den Rückgang der Schadstoffwerte seit der Wahl der Grünen in den Landtag dokumentieren. Im weiteren Verlauf entfaltete sich ein Hin und Her aus Relativierungen seitens Politiker („… natürlich sinken die Werte. Das ergibt sich automatisch aus der kontinuierlichen Erneuerung der Fahrzeugflotte.“) und weiteren Quellen meinerseits, welche sowohl Substanz als auch Sinnhaftigkeit seiner Äußerungen in Frage stellten. Das Ganze wurde begleitet vom eingestreuten dummdreisten Kommentar eines braunen Trolls (den ich ignorierte) und gipfelte in so kernigen Aussagen wie „Diesel retten leben!“ – weil ja Feuerwehrautos und Krankenwagen mit Strom auf dem Weg zum Einsatzort liegenbleiben würden.
Ich habe dann entnervt aufgegeben, als der Herr, meine gelieferten Statistiken völlig außer Acht lassend, äußerte: Die Grünen würden das Problem ja nicht in den Griff bekommen. Ich verwies ihn zum Abschied darauf, dass gerade seine Partei keine Lösungen anbiete und für mich die Diskussion sinnlos wäre, wenn er nur auf andere zeige.
Ja, aber die anderen!
Mal abgesehen davon, dass das Profil dieses Politikers – und es ist wirklich nicht das einzige – nur so strotzt von einseitiger, populistischer Effekthascherei und Bauernfängerei, wird es auch noch überrannt von beifälligen Kommentatoren, die sich im Sumpf dieser Plattitüden bestätigt sehen und wohlfühlen. Ein sinnvoller Austausch in diesen Bereichen des Internets erscheint mir nicht mehr möglich.
Was ich dem Politiker im Zusammenhang mit dem erfolgten Austausch vorwerfe, ist dieses „Ja, aber die anderen …“, das allerorten zur Relativierung eigener Aussagen und Meinungen benutzt wird. Der Verweis auf ähnliche Umstände oder Ereignisse der Gegenseite, die nichts oder nur scheinbar etwas mit der eigenen Aussage zu tun haben, hat Geschichte. Diese „Gesprächstechnik“ wird als Whataboutism bezeichnet und wurde besonders der Sowjetunion bei ihrem Umgang mit westlicher Kritik vorgehalten. Bezogen auf Als Elektro-Engagement sähe das etwa so aus:
E-Mobilitätsgegner: „Die Gewinnung von Lithium und Kobalt findet unter menschenunwürdigen Bedingungen statt und macht die Umwelt kaputt!“
Al: „Aber die Ölindustrie verseucht auch ganze Landstriche, und das seit Jahrzehnten!“
So und ähnlich bereits mehrfach gelesen. Und ich gebe Al Recht, aber auch dem Gegner, denn beide Aussagen sind korrekt. Ich unterstelle jedoch Al keinen Whataboutism.
Welche Möglichkeiten der Relativierung bleiben noch, wenn man nicht Fakten beider Seiten ins Verhältnis setzen kann? Wenn Diskussionen mit der Whataboutism-Keule pauschal erschlagen werden, wird der weitere Austausch unbrauchbar. Die Aussage des Gegenübers kann nur noch dadurch entkräftet werden, indem man versucht, ihr etwas Positives abzugewinnen. Im Beispiel oben der Lithiumgewinnung, die grundsätzlich eben problematisch ist, weil dazu Unmengen von Wasser aus ohnehin wasserarmen Gebieten in Wüsten gepumpt und dort verdunstet werden, worunter die Bevölkerung vor Ort leidet. Entkräften lässt sich eine solche Tatsache kaum, auch wenn sich die Umstände angeblich bessern. Genauso beim Kobalt: Dessen Förderung durch Kinderarbeit und unter anderen menschenunwürdigen Bedingungen ist in vielen Fällen katastrophal.
Dass die Ölindustrie schon seit Jahrzehnten unbeschreibliche und irreversible Schäden an der Umwelt anrichtet und die Lebensbedingungen ganzer Regionen nachhaltig zunichte macht, kann und muss als Gegenargument zugelassen sein. Und auch, dass Kobalt zur Entschwefelung von Öl bei der Treibstoffherstellung genutzt und in vielen Motorteilen verwendet wird. Und Lithium ist eben auch in fast jedem Akku aktueller Geräte enthalten. Es ändert nichts daran, dass die Beschaffung dieser Ressourcen ebenfalls problematisch ist. Doch diese Vergleiche können helfen, Gesprächsparteien für die Argumente des anderen zu sensibilisieren und zum Nachdenken über eigene Standpunkte anzuregen.
Wasch mir den Pelz, …
Ähnliches Szenario: Spricht man in Deutschland über Klimaschutz und damit verbundene Einschränkungen in der eigenen Lebensweise, wird schnell auf Schwellenländer verwiesen: „In Indien kümmern sie sich gar nicht um Klimaschutz, wieso sollen wir da weniger …“
Den Effekt hiesiger Maßnahmen kann man durchaus in Frage stellen, wenn eine Milliarde Inder demnächst Auto fahren und Flugreisen unternehmen. Auch ich gerate an der Supermarkttheke ins Grübeln, wenn ich mal wieder Bock auf eine Avocado habe, die so eine lausige CO2- und Wasser-Bilanz hat, ob es nicht angesichts Milliarden flugreisender Menschen völlig wurscht ist, ob ich nun zugreife oder nicht.
Das Dilemma: Meinem grantelnden Gegenüber müsste ich jetzt auch „Whataboutism“ vorwerfen. Ich mag das schon deshalb nicht, weil man ihn damit qua Wikipedia mit Angehörigen des sowjetischen Politapparates vergleicht.
Hier stelle ich nun den gesamten Begriff in Frage: Ist es nicht ein zutiefst menschlicher Zug, bei einzusteckender Kritik den Vergleich mit anderen zur Verteidigung der eigenen Verhaltensweise und Meinung zu bemühen? Ganz grundsätzlich gab es solche Reaktionen durchaus schon lange bevor der Kommunismus aufkam und am Ende wieder mit Glasnost und Perestroika zerbröselte.
Warum es manchmal besser ist, es sein zu lassen
Ein Facebook-Kontakt zitierte kürzlich unkommentiert den ehemaligen Präsidenten des Verfassungsschutzes, der äußerte, man dürfe sich heutzutage nicht mehr kritisch über die Migrations- und Umweltpolitik äußern, ohne gleich in die rechte Ecke geschoben zu werden. Da konnte ich mir den Kommentar nicht verkneifen, dass es auch nicht mehr möglich sei, Klimaskeptiker anzugehen oder jede fremdenfeindliche Äußerung zu kritisieren, ohne gleich zum links-grün-versifften Gutmenschentum zu gehören. Gleichzeitig machte ich deutlich, dass es ohnehin fast nicht mehr möglich sei, differenziert zu diskutieren und es in vielen Kontroversen nur noch Schwarz und Weiß gebe.
Mein Einwurf wurde prompt mit dem Vorwurf des Whataboutism quittiert. Auf meine Worte zur Diskussionskultur wurde nicht näher eingegangen und die Debatte endete im beiderseits in Einzeilern geäußerten Unwillen. Ein wenig spielte noch eine Rolle, dass ich das Ganze nicht in einen digitalen Streit ausarten lassen wollte.
Vor wenigen Tagen teilte jener Facebook-Kontakt dann – wieder unkommentiert – einen bebilderten Beitrag, in dem Greta Thunbergs öffentlichkeitswirksamer Atlantiküberquerung per Segelyacht eine miese CO2-Bilanz angerechnet wurde. Schließlich würden mehrere Skipper in die USA fliegen, um das Boot zurückzubringen. Und auch der Kapitän würde zurückfliegen. Soweit zu dem Bild.
Mir juckte es dann kurz in den Fingern, meinen Kontakt mit der Retourkutsche „Whataboutism“ zu überfahren oder dem Vorwurf des Tu-quoque-Arguments zu konfrontieren, welches eng mit dem erstgenannten Begriff verwandt ist. Denn genau das ist diese mit dem Beitrag geäußerte Meinung: Greta Thunberg kritisiert – nicht nur mit ihrer Atlantik-Überquerung – das umweltschädliche Verhalten unserer Zivilisation. Statt sich nun mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, wirft man hingegen ihr vor, es selbst nicht besser zu machen. Ich wollte auch einen Post des Ankerherz-Verlags hinzufügen, in dem einige Klarstellungen zu den Vorwürfen durch den Kapitän der Yacht erfolgen.
Den von meinem Kontakt geteilten Beitrag habe ich dann doch nicht kommentiert. Ursprünglich stammte er von der BILD-Zeitung, was Grund genug gewesen wäre. Geteilt wurde er jedoch dann auf der Seite eines weiteren AfD-Politikers, von wo mein Kontakt ihn wie beschrieben unkommentiert selbst teilte. Ich habe diesen Facebook-Kontakt nun entfernt.
What about „What about Whataboutism“ ?
Problematisch finde ich zweierlei: Wenn jede Weigerung, sich mit einem Problem tiefergehend auseinanderzusetzen, mit dem Verweis auf die Weigerung anderer legitimiert wird. Nennt es meinetwegen Whataboutsim, wenn es dafür einen Begriff braucht. Leider sind Empathie und Weitsicht unter den Menschen nicht gleich, geschweige denn ausreichend verteilt. Sonst wären Hinweise auf eine Vorbildfunktion, die unsere Industrie- und Wohlstandsnation und viele ihrer Einwohner übernehmen könnten, müßig. Solange Nachteile anderer Menschen, über Armut, Krankheit bis hin zum Tod, zugunsten der eigenen Situation billigend in Kauf genommen werden, ist die Geisteshaltung „Aber die anderen …“ aus ethischer Sicht nicht hinnehmbar.
Deshalb – und das ist das zweite Problem und sollte auf zwei Ebenen betrachtet werden – darf der so genannte Whataboutism weder ein Mittel für die Deklassierung von Argumenten darstellen („Aber die anderen …“) noch ein Totschlagargument für die gesamte Diskussion („Du mit deinem Whataboutism!“).
Ich weiß, es klingt widersprüchlich, darum noch einmal: Es spricht nichts dagegen, Aussagen und Fakten in Relation zu denen der Gegenseite zu stellen, solange sie keine Rechtfertigung für ein Nichtstun darstellen oder einen gravierenden Nachteil der Gegenseite billigen.
F…k Whataboutsim: Back to the words
Man mag das meinem Blogpost auch anlasten, vielleicht sogar noch stärker, weil es hier schon auf einer weiteren (Meta?-)Ebene um die Behandlung des Begriffs Whataboutism geht: In öffentlichen Diskussionen, und nicht nur im Netz, wird immer stärker die Art und Weise der Diskussion in den Fokus gerückt und der eigentliche Austausch zum Thema zurückgedrängt. Es wird gerade wieder augenfällig bei Greta Thunbergs Reise per Segelboot über den Atlantik. Neben der hitzigen Auseinandersetzung zwischen Klimawandel-Skeptikern und -Überzeugten zum Sinn und zur Nachhaltigkeit der Aktion wird schon auf anderem Level darüber debattiert, dass man sich darüber in die Haare gerät.
Wir maßen uns die Deutungshoheit über Kommunikation und Feedback an, vielleicht auch, um uns mit dem Wesentlichen nicht auseinandersetzen zu müssen. Eigene Meinungen sollen Fakten und die unumstößliche Wahrheit sein – man liest ja soviel! – und dürfen definitiv nicht in Frage gestellt werden. Äußerungen Andersmeinender werden mit mannigfach kopiertem Textmüll wie Whataboutism diskreditiert oder als unwahr dargestellt und ein weiterer fruchtbarer Austausch unterminiert.
Dagegen anzugehen ist anstrengend und zeitraubend und zum großen Teil auch umsonst. Eine Pause von derlei schwierigen Auseinandersetzungen tut vielleicht vielen einmal gut, um sich zurück zu besinnen auf das Essenzielle im konstruktiven Gedankenaustausch. Denn dieser muss sein, bevor wir alle auf unseren abgeschotteten Inseln versauern oder den nächsten Schritt und uns gegenseitig an die Gurgel gehen.