
Menschlichkeit: abgenutzt, aufgebraucht?
Menschlichkeit: ein sperriges Wort, das mehr bedeutet als die Zugehörigkeit zu einer biologischen Gattung. Und das in so vielen Bereichen unseres Lebens an Bedeutung zu verlieren scheint.
Ein Beispiel, ganz persönlich: Bildern und Videos von Grausamkeiten gehe ich so gut wie möglich aus dem Weg. Es gelingt nicht immer. Ganz aktuell ist es ein Post in meiner Facebook-Timeline, ein Video von einem Gebäude in Cherson, auf dem Menschen ein Dach reparieren. Und vom Einschlag einer Drohne. Und dann ist der Tag dahin, und die Monster verfolgen mich in die Nacht. Hochsensibel, es kann ein Fluch sein, wenn man die Menschlichkeit detonieren sieht.
Allgegenwärtige Grausamkeit vs. Menschlichkeit
Unerträglich bis hin zu seelischem und physischem Schmerz ist für mich allein die Beobachtung von Ungerechtigkeit und Gewalt gegen Menschen. Es ist egal, ob das der ungerechtfertigte verbale Ausraster eines Elternteils gegen das Kind ist, eine außer Kontrolle geratene Diskussionsrunde, in der sich die Kontrahenten anbrüllen, der Schubser eines Kindes gegen ein anderes im Kindergarten gegenüber, einfach weil es das kann.
Es spielt auch keine Rolle, ob ich Zeuge solcher Taten im realen Leben werde oder sie im Fernsehen oder auf Social Media sehe, nicht einmal, ob sie echt oder fiktiv sind. Ich verabscheue Horrorfilme, und selbst einige Serien, die in den vergangenen Jahren produziert wurden, kommen für mich nicht mehr in Frage. Ich denke nicht, dass ich empfindlicher geworden bin. Vielmehr beobachte ich eine bedenkliche Tendenz der Filmschaffenden, die Grenze der zumutbaren Zeigbarkeit von Grausamkeit zu verschieben. Ich bin ausgestiegen bei „Dexter“, „Game of Thrones“, „Carnival Row“, um nur einige zu nennen. Ich schalte regelmäßig bei der Tagesschau und dem arte Journal weg, wenn mal wieder so etwas wie die Straßen von Butscha oder Port-au-Prince gezeigt werden – keine Details hier.
Andere halten das aus, auch nicht ohne den Schauer des Entsetzens. Dazu muss man nicht hochsensibel sein. Und ein paar komplett abgekühlte Betrachter fühlen vielleicht gar nichts.
Live und in Farbe
Ich verlinke das Video hier bewusst nicht, liefere auch keinen Screenshot o.ä., auch nicht mit Triggerwarnung. Sucht selbst, wenn ihr meint, euch das ansehen zu können oder müssen. Ihr findet es per Suchmaschine.
Vogelperspektive, etwa 50 Meter über einem Gebäude, das ehemals zerstörte Dach ist größtenteils mit hellen Platten abgedeckt, an einer Stelle klafft noch ein größeres Loch. Mehrere Menschen sind mit der Reparatur zugange, als in der Nähe des Lochs eine Explosion erfolgt. Was mit den beiden Menschen passiert ist, die sich in der Nähe aufhielten, ist nicht bekannt und lässt sich wegen der Bildqualität und der Entfernung nicht erkennen. Alle anderen fliehen.
Nach dem Einschlag blieb mir das Herz stehen. Kopfkino:
Was ist mit den zwei Menschen passiert?
Haben sie überlebt? Sind sie verletzt?
Wieso feuert man auf eine Gruppe von Menschen, die ein Dach reparieren, das ihnen Tage zuvor weggebombt wurde?
Wer gibt solche Befehle? Wer führt sie aus?
WARUM?
Ja, aber …
Das Gesehene allein hätte mir schon gereicht, um mir den größten Teil des restlichen Tages zu verderben. Meine dünne seelische Haut in Verbindung mit meiner blühenden Fantasie taten ihr Übriges, um das Entsetzen in den Abend zu zerren.
Das Video habe ich auf Facebook gesehen, es wurde auf einer Gruppenseite geteilt, die sich klar gegen den russischen Angriffskrieg ausspricht und auch sonst vehement gegen jeden rechten Mist austeilt. Die Seite habe ich nicht ohne Grund abonniert.
Ich habe den Fehler gemacht, die Kommentare zu lesen.
Da wird erstmal nach der Quellenangabe für das Video verlangt, die der Verfasser des Posts prompt nachgeliefert hat. Dann wird die Quelle angezweifelt, beziehungsweise alle Quellen, denn es wurden gleich mehrere genannt. Jaaaaa, aber Telegram? Ob das zuverlässig ist?
Und überhaupt: Was für ein Dach ist das? Das von einem Militärgebäude? Kann man ja nicht richtig sehen. Und die Männer darauf: Wer sagt denn, dass das keine Soldaten sind, die ein „legitimes Ziel“ für den Gegner darstellen?
Menschlichkeit und Empathie: Fehlanzeige.
Gegen jedes Argument des Postverfassers gab es ein „Aber“, Zweifel, Relativierung. Ich bin ganz beim Verfasser, der nicht müde wurde, gegen die krude Gedankenwelt der Zweifler und Verschwörungstheoretiker mit Ethik, Fakten und Offensichtlichem anzuschreiben. Irgendwann wurde ich es müde, und auch der Impuls, mich in diesen Diskurs einzuschalten, verpuffte schließlich.
Manchen kann nicht geholfen werden
Ich wollte mich von Facebook zurückziehen und lande trotzdem aus verschiedenen Gründen immer wieder mal dort. Die Inhalte und der Umgangston sind nichts Neues. Es ist halt nur schlimmer geworden.
Eine Drohne schlägt in ein Gebäude ein, auf dessen Dach Menschen Reparaturarbeiten durchführen. Dabei kommen einige ganz gewiss zu Schaden, möglicherweise zu Tode.
Blendet doch bitte mal alles aus, was rund um dieses Ereignis geschieht, den Krieg, die Rakete, die Wochen zuvor das Gebäude beschädigt hat, ob das Cherson ist oder Kursk oder ein Dorf auf russischem Gebiet, ob das Soldaten sind oder Handwerker.
Menschen leiden. Menschen sterben.
Welcher Teil des Verstands muss ausgeschaltet oder nie vorhanden gewesen sein, um dieses Mindestmaß an Mitgefühl aufzubringen, das für eine Minute des Schweigens und Nachdenkens sorgt. Wo ist dieser Funken Empathie, der solche Social-Media-Stammtisch-Schwätzer davon abhält, ihren niederträchtigen, alles relativierenden und entschuldigenden Gedankenmatsch ins Netz zu rotzen? Wann und wo in eurem Leben ist die Menschlichkeit auf der Strecke geblieben?
Bisher konnte mir niemand eine Antwort auf solche Fragen liefern. Und ich muss mich mit der Erkenntnis anfreunden, dass es eine unüberschaubare Zahl von Menschen gibt, die des Mitgefühls genausowenig fähig sind wie des Denkens.
Auf der anderen Seite gibt es jedoch die, denen die Fähigkeit zur Menschlichkeit, zur Empathie gegeben ist und die diese wahrnehmen und zurückgeben können. Auf diese baue ich meine Hoffnung für die Zukunft.
… dann lass ich Ihnen den kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz, den mein Vater, Leon Reif, gesagt hat, dann lass ich Ihnen diesen Satz hier: „Sej a Mensch!“ – „Sei ein Mensch!“
— Marcel Reif bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus, 2024
* Wer denkt, auch hochsensibel zu sein und mehr über das Thema Hochsensibilität wissen möchte, dem empfehle ich die Insta-Posts von @let.s.talk.mental, außerdem einschlägige Literatur wie „Sind Sie hochsensibel?“ von Elaine Aron sowie „Hochsensibel ist mehr als zartbesaitet“ von Sylvia Harke.