Angst, Wut, Hoffnung
Sie ist wieder da: Die Angst vor dem globalen nuklearen Krieg. Die Wut auf das Böse. Und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Bis ins Jahr 1989 sind wir damit aufgewachsen, zu beiden Seiten des Deutschland spaltenden Zauns. Dieser trennte nicht nur Menschen voneinander, er teilte die Welt in zwei unterschiedliche Ideologien. Deren Grundsätze wurden über mehrere Generationen hinweg vererbt. In der Schule wurde uns das freiheitlich-demokratische Bild des Westens genauso eingeimpft wie das düster-rückwärtsgewandte Schreckgepenst des Sozialismus. In Nordosthessen hatten wir es einen Kilometer entfernt täglich vor Augen. Hinter Streckdraht und Schlagbäumen und der Werra – Achtung! Flussmitte Grenze! – war nicht bloß Thüringen. Dort war die DDR, Volkswirtschaft, Volkspolizei, die russischen Besatzer und der Warschauer Pakt.
Aufgewachsen mit der Angst
In meiner Jugend war damit die Welt in zwei Hälften geteilt, und ich hatte nach eigenem Empfinden das Glück, auf der „richtigen“, der „guten“ Seite geboren worden zu sein. Wir hatten „drüben“ Verwandtschaft, was dem abstrakten Bild der Gesellschaft im Arbeiter- und Bauernstaat ein wenig Gesicht verlieh. Dazu gehörten auch Besuche mit dem kleinen Grenzverkehr in der Luther-, Bach- und Wartburgstadt Eisenach. In Erinnerung geblieben sind mir noch in den Achtzigern die grauen Fassaden und marodes Kopfsteinpflaster. Ebenso gut entsinne ich mich der Volkspolizisten und NVA-Soldaten auf der anderen Zaunseite, auf den Wachttürmen, die schemenhafte Silhouette von Aussichtsposten auf einem Berg hinter der Ruine Brandenburg. Abends bin ich eingeschlafen mit dem tiefen Brummen schwerer Transportmaschinen, die unsichtbar durch den Nachthimmel pflügten, oder dem Wummern von Militärhubschraubern.
So abstrakt diese Welt mir als Teenager damals erschien: Die klare Trennung half mir, zumindest die mit finsterer Miene vorgetragenen Warnungen vor einer Eskalation der politischen Situation einzuordnen. Hollywoodfilme wie „War Games“ und nicht zuletzt „The Day After“ führten die Gefahr des nuklearen Desasters eindrücklich und nachhaltig vor Augen. Dass ganze Staatenverbünde sich hier mit quasi-religiösen Weltanschauungen waffenstarrend gegenüberstanden, nur ein paar Knopfdrücke vom Atomkrieg entfernt, war schwer zu ertragen, aber zumindest nachvollziehbar. Wenn auch die Gründe himmelschreiend hirnverbrannt waren.
A strange game. The only winning move is not to play.
Joshua / WOPR, im Film „War Games“, nachdem das Programm alle möglichen Varianten eines Atomkriegs simuliert hat.
Und heute? Nach drei Jahrzehnten relativer Ruhe steht die Menschheit wieder am Abgrund. Jedoch nicht wegen in den jeweiligen Ländern weithin anerkannter Ideologien, die es zu verteidigen gilt. Nicht, weil eines dieser politischen Systeme das andere militärisch bedroht oder gar dessen Auslöschung heraufbeschwört.
Nein. Nur weil bei einem Menschen sämtliche Sicherungen durchgebrannt sind.
Ich kann es mir selbst nicht anders erklären. Zahlreiche Fernsehsendungen habe ich verfolgt und Onlineartikel gelesen, in denen sich Politiker und Psychologen um eine Analyse der Beweggründe des russischen Präsidenten bemühen. Die meisten kurven halbwegs diplomatisch um das für mich Offensichtliche herum. Sie zählen allerhand Begleitumstände und Geschehnisse der vergangenen Jahre auf, die zu Putins Einschätzung der Lage und damit zur jetzigen Situation geführt haben. Die wenigsten nennen das Kind beim Namen. Mag er auch noch so intelligent sein. Attila, Blofeld, Thanos, Hitler und Konsorten waren das auch, und wir wissen, was sie angerichtet haben.
Und da kommt diese hilflose Wut. Darüber, dass es nach Jahrtausenden voller Mord und Totschlag immer noch solchen narzisstischen Psychopathen gelingt, Führungspositionen mit einer derartigen Machtfülle zu erlangen. Und darüber, dass es eine unüberschaubare Masse an Blinden und/oder Blöden gibt, die weder den irrsinnigen Glanz in den Augen des Despoten noch die potentiellen Konsequenzen seines Handelns erkennen oder gar in Frage stellen. Dabei spielt es eine unwesentliche Rolle, ob sie diesen Mann bei der letzten Wahl ins Amt gehievt oder bestätigt haben, oder ob sie in seiner Führungsriege schweigend und nickend an seiner Seite stehen. Wer das Tun dieses Wahnsinnigen gutheißt oder auch nur irgendeine Art von Verständnis aufbringt, stellt sich mit diesem Verbrecher in eine Reihe.
„Aber man muss Putin auch mal zuhören …“
Ich höre diese Stimmen auch in meinem direkten Umfeld. Ich teile die Einschätzung, dass die Regierungen vieler westlicher Staaten Putin viel zu lange haben zu viel durchgehen lassen. Es ist völlig egal, ob wirtschaftlicher Benefit oder die Furcht vor einer Eskalation der Anlass waren. Von Naivität wird allenthalben gesprochen. Müßig, über verschüttete Milch zu heulen. Vielleicht gereicht das Resultat dieser fragwürdigen Strategie zumindest nachfolgenden Generationen als Warnung.
Einstweilen ist es zum Zuhören zu spät. Im Vorfeld wurden zahlreiche diplomatische Versuche unternommen, um die Katastrophe zu verhindern. Ich erinnere mich an hilflose Präsidenten und Kanzler, die Putin an einem auffallend langen Tisch gegenübersitzen, sich seine Lügen anhören und frustriert und unverrichteter Dinge wieder vondannen ziehen mussten. Eine Farce.
Zuhören. Einem wahnsinnigen Despoten. Einen Scheiß muss man.
Wer seine Soldaten belügt und in den Tod schickt, wer ohne mit der Wimper zu zucken Krankenhäuser und Kinderheime bombardiert, wer Millionen Menschen aus ihrer vormals friedlichen Heimat in die Flucht zwingt, der hat das Recht, gehört zu werden, verwirkt. Seine Gründe sind mir scheißegal. Und nein, eine Lösung habe ich nicht.
Auf Facebook folge ich einem Mann aus Kiew, der von dort täglich mehrfach äußerst eindrücklich die Situation schildert. Den Aggressor betreffend, kondensierte er die Chancen auf eine diplomatische Lösung mit dem Satz:
„You cannot befriend a cannibal.“
Ich hoffe, auch die Russen lieben ihre Kinder
Wie gesagt: Für den Fortgang dieses Horrors habe ich keine Idee. Ich bin immer für unblutige Diplomatie und zähes Ringen um Kompromisse. Hauptsache, dieser furchtbare Feldzug kommt umgehend zu einem Ende, das kein weiteres Leid fordert. Andere Szenarien zur Lösung des „Problems“ führe ich hier nicht auf, ich mag mich selbst nicht leiden für einige dieser Gedankengänge.
Vor wenigen Tagen wurde in einer Sondersendung über Flüchtende auf ihrem Weg durch die West-Ukraine berichtet. Für drei oder vier Sekunden war da ein etwa Fünfjähriger auf einem Bahnsteig zu sehen, der einen kleinen Rollkoffer hinter sich her zerrte und völlig aufgelöst heulte. Es hat mir das Herz zerschnitten.
Sollte es Gerechtigkeit geben, dann möge eines baldigen Tages ein Gericht die Verantwortlichen in Einzelzellen sperren und ihnen rund um die Uhr mit voller Lautstärke diese Szene vorspielen, bis ihnen das Hirn aus den Ohren läuft.
In meinem Kopf triggern die täglich neuen Bilder einen damals umstrittenen Song von Sting, den ich wegen seiner negativen Stimmung nie besonders mochte, auch heute nicht. Die triviale Botschaft des Refrains bringt meine Gemütslage jedoch auf den Punkt:
Believe me when I say to you
Sting, Russians
I hope the Russians love their children, too
Meine Hoffnung liegt darin, dass das russische Volk wie die überwältigende Mehrheit aller Menschen auf der Welt Besseres im Sinn hat als Krieg und Vernichtung und die Kraft aufbringt, diesen Irrsinn zu beenden.
Bis dahin bleibt mir nur, mich über die überwältigende Anteilnahme und Solidarität zu freuen und durch Spenden einen kleinen Beitrag zur Linderung des Leids der Betroffenen zu leisten.
Vielen Dank für diesen wohltuenden Beitrag in schwierigen Zeiten!
angst,wut und hoffnung,genau das sind die wörte,die mich seit beginn des krieges tag für tag beherrscht.ich hatte gekannt,wie raketen fliegen und einschlagen.wie fliege-sirene tagsüber ging und als kind jede nacht wachgemacht wurde,um in das erdloch im haus runter zu kriechen,weil draußen über uns heftig geschossen wurde.gleich am ersten tag,nach dem ich im radio gehört habe,daß putin ukraine angrifft,da kam alles wieder bei mir hoch.habe mich zwar schon etwas wieder unter kontrolle,aber die angst ist leider noch da.ich hoffe,daß die menschen (außer den idioten putin)denn der ist völlig geistes gestört,vernunftig sind und mehr für den frieden sind.heute habe ich gesehen,daß schon viele russen ihr land verlassen,weil sie gegen den krieg sind.das ist für mich hoffnung.
Liebe Dao,
Danke für deinen Kommentar. Das grausame Geschehen in der Ukraine muss für dich, die du einen Krieg am eigenen Leib miterlebt hast, so viel schlimmer sein als für uns, die wir im Frieden aufgewachsen sind. Ich wünsche dir viel Kraft, das zu ertragen, und uns allen, dass dieser Wahnsinn schnell vorbei ist.