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Das sind eure krassen Bedürfnisse: Atmen, Essen, Schlafen.

Schwierige Zeiten haben wir gerade, die uns einiges abverlangen. Mit einem Rest gesunden Menschenverstands könnten wir Krisen wie die aktuelle gemeinschaftlich gut meistern. Ereignisse wie die „Demos“ in Leipzig, Dresden und Berlin sprechen eine andere Sprache.

23.11.2020: Den Artikel habe ich vor etwa 10 Tagen begonnen und konnte ihn bis jetzt nicht fertigstellen. Die Ereignisse der letzten Tage überholen mich immer wieder und nötigen mir Überarbeitungen und Ergänzungen ab.

Als ich den Artikel zu schreiben begann, war ich gerade guter Dinge. Das möchte ich vorweg schreiben, damit nicht der Eindruck entsteht, ich wäre mies drauf. Zumal ich in den folgenden Zeilen für mich untypisch hin und wieder den tugendhaften Pfad des guten Tons verlasse.

Trump wurde abgewählt und wird letzten Endes gehen müssen. Ein Impfstoff gegen das Virus scheint gefunden. Es wäre nun an der Zeit, sich wieder großen Themen wie dem Klimawandel, Migration, politischer und wirtschaftlicher Stablität zu widmen. Allerdings hat eine kleine Gruppe Verwirrter anderes auf dem Schirm. Und diese offensichtlich Fehlgeleiteten fördern meine Zweifel an der langfristigen Überlebensfähigkeit unserer Spezies. Wie ich kürzlich auf Facebook postete: Der Mensch, die „Krone der Schöpfung“ – wen wundert’s, dass die Monarchie ein Auslaufmodell ist …

Man muss sich schon beherrschen, um nicht offensiv zum Misanthropen zu werden.

Es gibt nur eine Wahrheit

FreimaurersymbolKürzlich musste ich in einem ganz anderen Zusammenhang sinngemäß lesen: „Jeder hat seine eigene Wahrheit.“ Der Satz stieß mir sauer auf, denn hat Wahrheit nicht Anspruch auf den Singular? Ich halte es mit der Wahrheit wie mit Axiomen und dem Highlander: Es kann nur eine(n) geben! Die Konstruktion mehrerer Wahrheiten ist so unsinnig wie die Zuhilfenahme „alternativer Fakten“, deren Formulierung nicht umsonst zum Unwort des Jahres 2017 wurde. Schade, dass der Begriff nicht zusammen mit Präsidenten-Beraterin Kellyanne Conway in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist.

Die Erschaffung dieses zweifelhaften Bonmots ist nun schon über 3 Jahre her, dennoch beschreibt die damit verbundene Geisteshaltung einen Zustand in einem Großteil der Gesellschaft, der einem Angst machen muss. Wäre es nur eine verschwindend kleine Minderheit, die ihre kruden Theorien von der Weltverschwörung, der Bundesrepublik Deutschland GmbH, der Kinderblut saufenden Machtelite und natürlich den verheerenden Folgen der Massenzuwanderung in eine Nische des Internets kübelte, ließe mich das nachts gut schlafen.

Doch das Ganze ist salonfähig und massentauglich geworden. Pegida-Demonstranten treiben seit nunmehr sechs Jahren ihr Unwesen. Und nicht nur in Dresden gibt es derlei unverhohlen völkische Umtriebe, auch westdeutsche Städte werden davon heimgesucht. Nun vermischt sich jene braune Soße mit der geistigen Diarrhoe der Verschwörungstheoretiker.

Leipzig, November 2020

Einen ersten Gipfel der Idiotie haben wir am Samstag, 07.11.2020, in Leipzig erlebt: Aktuell befinden wir uns in einem landesweiten Lockdown „light“, trotzdem wird eine Demo von so genannten Querdenkern um den selbsternannten Aufklärungs-Guru Ballweg nicht nur unter Auflagen genehmigt, das Oberverwaltungsgericht Bautzen schmettert sogar den Versuch der örtlichen Behörden ab, die Veranstaltung an den Stadtrand zu verlegen. Also los: Zehntausende werden in die Stadt gelassen, wohl ahnend, nein, wissen müssend, dass ausgehend von der Gesinnung der Teilnehmer gegen viele derzeit geltende Regeln wie Abstand und Maskenpflicht verstoßen werden wird.

Noch einmal zum Mitschreiben: Während ich mich nicht einmal mit zwei meiner besten Kumpels auf ein Feierabendbier treffen darf, stürmen Tausende krawall-bereite Möchtegern-Revoluzzer die Leipziger Innenstadt und scheren sich einen Dreck um den Austausch von Aerosolen. Noch schlimmer: Als die Demo folgerichtig aufgelöst werden soll, geht es erst richtig zur Sache, und die Polizei knickt im Angesicht der Aggression ein und lässt die Melange aus Aluhüten und Nazis auf dem Innenstadtring weiter wüten.

Leipzig, November 1989

Meine Frau ist in der Nähe von Leipzig geboren und aufgewachsen. Sie reiht sich ein in die Liste derer, die sich momentan schämen, Sachse zu sein. Ich lese das in den Kommentarspalten derzeit öfter. Meine Schwiegereltern sind außer sich vor Wut, nicht nur wegen der offensichtlichen Dummheit der Teilnehmer oben genannter „Demo“ und dem Unvermögen von Justiz und Behörden. Dass sich die Demonstranten nicht entblödeten, ihrem Marsch den Anstrich einer Leipziger Montagsdemonstration zu verpassen um ihn damit in besseres Licht zu tauchen, schlug für sie dem Fass den Boden aus.

Dieser aus dem Nichts entstandene Widerstand von damals hat mit den verwöhnten Querdenkern und den in ihrem Kielwasser marodierenden, mit-marschierenden Nazis absolut nichts gemeinsam.

Dresden, 9. November 2020

HandNicht genug mit Leipzig: Den nächsten Höhepunkt an völlig empathieloser Rücksichtslosigkeit erklomm ohne allzu große Mühe oben bereits genannte Pegida-Truppe in Dresden. Gratulation an die Stadtverwaltung, die komplett geschichtsvergessen sämtliche öffentlichen Veranstaltungen zum Gedenken an die Pogrome absagt, parallel aber nichts unternimmt, um den bekanntermaßen rechts durchsetzten Aufmarsch wenigstens an diesem Tag zu verbieten. Jaja, dafür gibt es „keine gesetzliche Grundlage“, so der Stadtsprecher. Fein raus, die Herrschaften.

Ist dann ja egal, dass auch auf diesem Stelldichein vernunftbegabter Verteidiger des Okzidents die Vorzeige-Nationalisten Kalbitz und Bachmann ihren braunen Senf zum Besten geben.

Ihr Pussies!

Absolut nichts einzuwenden habe ich, wenn Menschen gegen Unrecht, Diskriminierung, politisch kaputte und korrupte Systeme, für den Klima-, Tier-, Umweltschutz usw. auf die Straße gehen. Dahinter steckt in der Regel die Motivation, das eigene und vor allem das Leben seiner Mitmenschen im großen Stil langfristig zu verändern.

Null Verständnis bringe ich auf für die geballt auftretende Masse an Aushilfsaufrührern mit ihren dummen Sträflingsplakaten, den selbstironischen Aluhüten (haha, lustig – äh, nicht!) und ihrem substanzlosen Gegeifer gegenüber Politik und Andersdenkenden. Da wird gefaselt von einem groß angelegten Pandemie-Test, von Impfpflicht, von Bill-Gates und dessen Plänen, uns alle zu chippen, damit wir anschließend über das neue 5G-Netz ferngesteuert werden können. Im mildesten Fall wird mit der globalen Argumentkeule zum Rundumschlag ausgeholt: „Die nehmen mir meine Rechte! Wir leben in einer Corona-Diktatur!“

Ihr Blitzbirnen: Ihr lebt in einem demokratischen Sozialstaat, der euch dermaßen viele Rechte gibt, dass es – Achtung: Whataboutism-Warnung! – Nordkoreanern die Tränen in die Augen treibt. Ihr sollt für ein paar Monate mal die Füße stillhalten und ein Stück Stoff vor der Visage tragen und jammert über die Einschränkung eurer Grundrechte, eurer Bedürfnisse. Tatsächlich: Da heulen einzelne Jugendliche, sie fühlten sich schon „krass eingeschränkt“, sie könnten ja nicht feiern, und darauf seien sie ja schon „angewiesen“. Geht’s noch?!? Eure Grundbedürfnisse sind Atmen, Fressen, Pennen und KaXXXn, alles andere ist Luxus!

Sorry, musste erstmal eine Packung Neurexan fressen. Ernsthaft: Den meisten hierzulande geht es doch viel zu gut. Liegt es daran, dass sie wegen Corona zuviel Zeit haben, um sich derlei Hirngespinste zu weben?

Ich bin auch nicht überzeugt von allen Entscheidungen und Auflagen, welche die Politik aktuell in Berlin fabriziert. Allerdings gibt es für die derzeitige Situation keinen wirklichen Präzedenzfall, der sich auf die Gegebenheiten der Neuzeit anwenden lässt. Das bedeutet, dass auch die Politik nicht den Masterplan in der Schublade hat und eher wie ein Kapitän im Nebel auf Sicht fahren muss. Oder sind die Cheftheoretiker beim Querdenken da vielleicht auf eine bessere Idee gestoßen? Man kann es eben nicht jedem recht machen.

Was ist ein Opfer?

StolpersteineWeiter geht’s: Als ich dachte, der Peak der Unverschämtheit sei bereits erreicht oder gar überschritten, stellt sich eine profilneurotische Teenagerin in Hannover auf eine Bühne und vergleicht sich und ihre Situation mit Sophie Scholl und dem Widerstand gegen das Naziregime. Mir fiel erst einmal mehrere Sekunden lang nicht ein einziges Wort dazu ein. Ich feiere den Ordner, der dem Mädel mit seiner Unterbrechung sehr effektiv das Wort abschnitt, ob er nun ein offizieller Ordner war oder seine Aktion geplant war, spielt keine Rolle.

Geht nicht schlimmer? Die Skala der Geschmacklosigkeit ist nach oben offen: Am 14.11. verglich eine 11-Jährige bei einer Querdenker-Demo in Karlsruhe die Umstände ihres Kindergeburtstages mit der Situation von Anne Frank. Sie habe sich mit ihren Geburtstagsgästen mucksmäuschenstill verhalten müssen wie das jüdische Mädchen, um nicht von den Nachbarn bemerkt und verpfiffen zu werden. Dem Mädchen in Karlsruhe mag zugute gehalten werden, dass es nicht den blassesten Schimmer hatte, was es da von sich gab, und hoffentlich wächst für sie persönlich das Gras in Rekordzeit darüber. Was jedoch schnell aufgeklärt werden muss, ist die Rolle des Verfassers der Rede, womöglich der Eltern, in diesem Gruselszenario, die vor der Instrumentalisierung ihrer Kinder nicht halt machen. Immerhin, die Untersuchung läuft.

Symptome und die Krankheit: Uns geht’s wohl zu gut

Klar, beide sind „nur“ Symptome einer selbstverliebten und arroganten kranken Bewegung, die sich durch alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen zieht. Menschen, denen buchstäblich die Sonne aus dem Rektum scheint, prangern vermeintliches Unrecht an, um … ja, was, sich wichtig zu fühlen, einmal die 15 Minuten Ruhm im Leben einzuheimsen? Mögen sich Psychoanalytiker damit befassen und ihnen die notwendige Unterstützung angedeihen lassen.

Grotesk, verwerflich und in steigendem Maße widerlich ist das selbstanmaßende Absolutum dieser so genannten Querdenker, die felsenfest von der Richtigkeit ihrer Thesen überzeugt sind und nicht müde werden, diese publikumswirksam in jede Kamera der „verlogenen“ Medien zu schreien. Dieser aus Hörensagen, YouTube-Videos, Facebook-Posts und ähnlich vertrauenswürdigen Quellen zusammengeklaubte himmelschreiende Unsinn würde keiner ernsthaften Überprüfung standhalten, allein, Gegenargumente ziehen nicht mehr: Bist du nicht ihrer Meinung, bist du ein systemhöriges Schlafschaf.

Ich bin nicht fürs Bashing und habe hin und her überlegt, ob es in Ordnung ist, #janaauskassel derart an den Pranger zu stellen, wie es gerade in den (a)sozialen Netzwerken geschieht. Da der auf sie niedergehende virale Shitstorm durch meine Wenigkeit und die meines Artikels jedoch ohnehin kaum an Masse zunehmen dürfte, richte ich ebenfalls den digitalen Zeigefinger auf sie als Stellvertreterin einer geschichtsvergessenen ignoranten Bande, die versucht, sich auf eine Stufe mit wahrhaftigen Opfern totalitärer Regime zu hieven. Die, statt quer zu denken und leider auch so zu handeln, einfach das Geradeausdenken trainieren sollte und damit die sozialverträgliche Umsicht und den gegenseitigen Respekt beweisen könnte.

Woran liegt’s?

BibelErklärungsversuche gibt es zuhauf. Plausibel klingt für mich der Inhalt dieses SPIEGEL-ONLINE-Artikels, der den Leipziger Historiker und Politikwissenschaftler Michael Lühmann zitiert. Dieser sieht die Regionen in Ostsachsen, dem Erzgebirge und rund um Stuttgart ähnlich wie die so genannten „Bible Belts“ (dt.: Bibel-Gürtel) in den USA. „In den USA steht der Begriff »Bible Belt« für jene bibeltreuen Landstriche, in denen Evangelikale weit über ihre Gemeinden hinaus ins politische und gesellschaftliche Leben hineinwirken.“, schreibt der Spiegel-Autor und bringt mit wenigen Worten ein Gefüge auf den Punkt, das ich selbst erlebe und höchst beunruhigend empfinde: Nach Jahren als „Rãêgschmeckdr“ (Zugezogener, Anm. d. Red.) habe ich im Schwabenland zahlreiche Kontakte geknüpft und bin hier auch mit Menschen zusammengekommen, die sich nach einiger Zeit als – nennen wir es – fundamentale Christen herausstellten.

Das heißt nicht, dass sie nur regelmäßige Kirchgänger wären, es geht da um Bibeltreue bis hin zur absoluten Überzeugung, dass das Wort der Heiligen Schrift nur Wahres enthält. Ich kam hier erstmals mit Begriffen wie Kreationisten und Flat Earthers in Berührung und musste mir anhören, dass Homosexuelle sich ihre Neigung ja aussuchten, so dass sie auch wieder zu bekehren seien. Dieses hanebüchene Deckmäntelchen für eine verklausulierte Homophobie macht mich auch heute noch sprachlos.

Naturwissenschaftliche Belege beispielsweise für ein höheres Alter der Erde werden widerlegt durch Anzweifeln der Datenlage und dadurch, dass diese Daten ja durchaus interpretierbar sind. Ein eigener Kosmos: Wer sich tiefer in die Gedankenwelt der Bibeltreuen einlesen möchte, dem empfehle ich diesen Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung.

Ausblick

Selbstverständlich sind die Evangelikalen nicht die alleinigen Begründer des derzeit allgegenwärtigen Protests. Ihre konservative Einstellung spiegelt aber in erstaunlichen Schnittmengen die von Querdenkern und Rechts-Außen-Patrioten wider. Bloß keine Veränderung. Ohne sie gesammelt in einen Topf werfen zu wollen, macht sich ein Großteil aller dieser Gruppen doch mit ähnlich Gesinnten gemein und unternimmt wenig zur gegenseitigen Abgrenzung. Und macht sich damit – gewollt oder nicht – mitschuldig an der Verrohung des Tons und der Spaltung der Gesellschaft.

Hoffentlich ist das Virus im kommenden Jahr durch Impfstoffe oder welche Maßnahmen auch immer ein (wenn auch episches) Kapitel in unserem Geschichtsbuch und die Quer- und Rückwärtsdenker verschwinden in der Versenkung. Und mögen sie kein weiteres Lügengebäude für ihre kruden Theorien finden.