Gelangweilt vom Leben: Skandale, Promis, Sensation!
Sensation! Nun ist es das Virus, das uns beschäftigt und allerhand irrationale Handlungen verursacht. Was kommt als Nächstes?
Wenn gerade nichts Weltbewegendes anliegt, stürzen sich Journalisten mehr oder weniger seriöser Blätter auf die Hoch-Prominenz des Planeten. Hat auch diese nichts Aufrüttelndes zu bieten, müssen Promis der Kategorien B bis F herhalten. Online-Angebote von Bunte über Gala bis Brigitte entblöden sich nicht, das Frühstück der Gattin eines vermeintlichen Schlager-Superstars auf den Kaloriengehalt und die – auweia – Nachhaltigkeit hin zu analysieren. Und wehe, das Mädel ernährt sich nicht nach den aktuell gültigen Regeln des Medien-Hypes. Dann wird es mit mannigfachen Schmähungen des Redakteurs/der Redakteurin und in Form von Kommentaren der geneigten Leserschaft der (a)sozialen Lynchjustiz zugeführt.
Sag mir, ist es wichtig?
Derzeit rückt der Spießrutenlauf, dem sich zum Beispiel Harry und Meghan in den vergangenen Monaten ausgesetzt sahen, zumindest hierzulande ein wenig in den Hintergrund. Obwohl, lasst mich nachsehen … (der Autor verschwindet für zwei Minuten im Boulevard-Universum) … eigentlich doch nicht. Auf den Klatschseiten starren mich neben den beiden Fast-Ex-Royals mir zu 90 Prozent unbekannte Gesichter an, untertitelt mit so erschütternden Nachrichten wie: „… hat ein neues Tattoo“, „warum sie Komplimente so wichtig findet“ oder – total hart – „Hat Queen Elisabeth einen geheimen Anti-Megxit-Plan?“ (Der Autor verschwindet kurz auf der Toilette.)
Nein, ich lese den Kram wirklich nicht, Ehrenwort, und bin heute beim Schreiben in der Tat einigermaßen erschüttert über die geballte Unwichtigkeit der Artikel. Einmal abgesehen davon, dass irgendein Redakteur diesen Quatsch recherchieren muss, benötigt es eine gehörige Zahl an Klicks von Lesern, um den Aufwand zu legitimieren. Ich stelle mir unweigerlich Tausende von Menschen vor, die zu verschiedenen Tageszeiten zu viel Vakuum um sich haben. Tags oder nachts. Vakuum, das durch mangelnden Antrieb und/oder die wenig ausgeprägte Fähigkeit des lethargischen Individuums zur Selbstentfaltung und Weiterentwicklung entsteht. Vakuum, das gefüllt sein will.
Das Leben der Faultiere
Vor dem TV- und Internet-Zeitalter sind solche Faultiere, wenn es sie gab, rausgegangen. Oder sie wurden von ihren Eltern aus dem Müßiggang geprügelt. Andere Zeiten, andere Sitten: Nach dem Krieg gab es die Glotze praktisch nicht und genug zu tun. Und das Tun an sich war im Vergleich zum Rumtrielen hoch angesehen. Wachsende Automatisierung, ein hervorragendes Sozialsystem und die gesellschaftliche Akzeptanz befördern heute jedoch die Neigung zur Faulheit.
Dieses defizitäre Verhalten benötigt Bestätigung. Die Makel anderer dienen als Vergleichsmuster nach dem Gusto: Die haben ihr Leben ja nicht im Griff, wie cool dagegen bin ich! Bliebe das Dasein dieser Phlegmatischen in der nicht wahrnehmbaren Selbstbeweihräucherung, könnte es einem glatt egal sein. Nun jedoch erhalten sie mit den sozialen Medien und den Kommentarspalten eine Plattform.
Ursachensuche
So richtig hässlich wird es, wenn durch Äußerungen oder Handlungen solcher Menschen andere verbal oder physisch in einer Art und Weise attackiert werden, dass Letztere verletzt werden. Es ist eine Sache, seine Meinung in gut verständlicher Form zu äußern und dazu noch sinnige Argumente zu liefern. Dazu bedarf es jedoch nicht der Aggression gegen Andersdenkende. Die extremen Beispiele kann und möchte ich hier gar nicht wiedergeben… wenn ich es genauer überlege, möchte ich gar keine Beispiele geben. Die werden dann wieder nur von den Suchmaschinen gefunden und ich lande am Ende noch auf dem Index. Also mein Blog.
Viel lieber möchte ich unseren derzeitigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble zitieren, der just gestern in seiner Eröffnungsrede zur Debatte um die Morde von Hanau sagte, dass solche Taten „in einem vergifteten gesellschaftlichen Klima“ entstünden, und dass dies so lange weitergehe, …
… bis Minderheiten als Bedrohung empfunden und in sozialen Netzwerken Hetzjagden oder sogar Morde von perversen Beifallskundgebungen begleitet werden.
Wolfgang Schäuble
Platz da, ich muss filmen!
Schlimm genug, denke ich. Eine andere Form plumper menschlicher Gier nach Sensationen tritt zu Tage, wenn ich fast in ein Stauende rase, weil sich auf der Gegenspur ein Unfall ereignet hat. Was glauben diese Gaffer eigentlich dort zu entdecken zwischen Trümmerteilen und Einsatzfahrzeugen? Schaut besser Game of Thrones, wenn ihr spritzendes Blut, zermatschte Köpfe und meterweise Eingeweide sehen wollt! Das ganz große Messer geht bei mir auf, wenn ich gezückte Smartphones sehe, mit denen das Leid Verunglückter noch gefilmt und wahrscheinlich im Netz gepostet wird. Ich feiere noch heute den Polizisten, der solche Aasgeier aus ihren Autos und Lkw zitierte und sie zum Schauplatz einlud.
Noch einmal Ursachensuche
Meinungen sind in Ordnung, wie oben geschrieben, so lange sie anderen nicht wehtun. Doch es gibt reichlich Material anderer Kategorien, das ungefiltert in die breite Öffentlichkeit suppt und sich – selten passte das Wort so gut – viral verbreitet.
Auf der Suche nach Erklärungen für die Neigung zur Sensationsgier stolpert man über Begriffe wie die „Glaubenskrieger“. Ganz wunderbar beschrieben werden Charakteristika und Verhaltensmuster dieser Spezies auf der Seite des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg. Die Liste der Eigenschaften lässt sich beim Lesen von Beiträgen in sozialen Medien an unendlich vielen Stellen mit ganz vielen Haken versehen: check, check, check, … Ich bin nicht sicher, ob den Verfassern geholfen werden kann.
Den Klick-Fans oben genannter Yellow-Press-Erzeugnisse wünsche ich ein wenig mehr Nachsicht mit den gestalkten Promis: Lasst sie doch machen, sind auch nur Menschen. In meiner Familie / Generation gibt es das Bonmot „Diese Leute machen beim Kacken auch bloß die Beine krumm.“ Belasst es dabei, und befeuert nicht noch die Klickzahlen und damit die Werbeeinnahmen dieser Online-Magazine, denn nur darum geht es denen. Eine Win-Win-Situation ist das nicht, der Gewinn liegt nur bei den Schmierhanseln und deren Werbekunden, die Loser seid ihr, weil ihr eure Zeit verbrennt mit nutzlosen Unwichtigkeiten.
Fangt was Sinnvolles mit eurer Zeit an. Wenn ihr euch schon mit dem Internet beschäftigen wollt, lest lehrreiche Artikel, bringt euch konstruktiv in Diskussionsforen ein. Gern auch in Kommentarspalten, aber seid nett zueinander. Erstellt Kalender aus euren 2,5 Millionen Handyfotos (die guten bitte, damit kann man sogar bissl was verdienen). Eröffnet einen Blog und kotzt euch aus über Blogger, welche die Sensationsgier anprangern. Ab und zu rausgehen unter Leute ist auch eine gute Idee … Es gibt so viele Möglichkeiten, wenn man nur seinen Allerwertesten mal aus der Sofakuhle herausbekommt.