Das Ende des Pfades
Mit Worten kann ich in der Regel recht gut umgehen, doch diesen Post zu verfassen, fordert mir mehr ab als jeder andere davor. Aber reden wir nicht von mir.
Bei meiner Mutter wurde im Frühjahr 2016 ALS diagnostiziert, die ersten Anzeichen gab es wohl aber schon im Sommer 2015.
Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine Erkrankung des motorischen Nervensystems, die schleichend die Funktionsfähigkeit der Muskeln bis zur vollständigen Lähmung zur Folge hat und fast ausschließlich innerhalb weniger Jahre zum Tod führt. Der Geist bleibt dabei klar und erlebt den Verfall mit. Eine Heilung dafür gibt es nicht. Die Lebenserwartung liegt ab dem Zeitpunkt der Diagnose im Schnitt bei 3 bis 5 Jahren. Ausnahmen gibt es für die Form der juvenilen ALS, mit der der bekannte Physiker Stephen Hawking Jahrzehnte gelebt hat.
Der Weg bis zur traurigen Gewissheit war vor allem für meine Mutter und meinen Vater ein seelischer Horrortrip zwischen Ärzten und Kliniken, zwischen Hoffen und Bangen, da die ALS nur durch Ausschluss anderer Krankheiten mit ähnlichen Symptomen eingekreist werden kann. Besonders meine drei Geschwister, die in der Nähe meiner Eltern in Nordhessen wohnen, haben alle Hebel in Bewegung gesetzt und noch die scheinbar abwegigsten Tests durchführen lassen. Am Ende mussten wir dann doch mit der Erkenntnis klar kommen, dass Mama einer von den etwa 7000 Menschen in Deutschland ist, die jährlich diese Diagnose erhalten.
Am 1. September 2018 ist meine Mama mittags das letzte Mal eingeschlafen.
Aus der Bahn geworfen
Natürlich begreift man im Verlauf der Monate mit jedem per Befund verkündeten Rückschlag, dass der Rest des Weges verdammt kurz ist und man sich mit dem Tod des geliebten Menschen auseinandersetzen muss. Das gelingt ein Stück weit. Ich befinde mich in der Situation des emigrierten Sohnes, der vor allem zu Familienfesten seinen Heimatort und die Familie besucht. Die Abschiede an diesen Wochenenden waren schon immer sehr herzlich und von Seufzern begleitet. Mit dem Fortschreiten der Krankheit trat das Absolute auf den Plan: Vielleicht war das ein Abschied für immer. Ein Funken Hoffnung bleibt bestehen, das Klammern an das Unmögliche, doch die grausame Gewissheit überwiegt, dass sich irgendwann zum letzten Mal die Tür zum Krankenzimmer schließt.
Selbst jetzt noch ist das Empfinden bisweilen das eines surrealen Films. Freunde, die ebenfalls Mutter oder Vater an eine Krankheit verloren haben, bestätigen dies: Egal wieviel Zeit man am Ende mit dem oder der Leidenden verbracht hat, diese Momente werden zu kaum greifbaren Überresten von Erinnerungen an einen Traum in einer unruhigen Nacht. Man versucht sich an Details zu erinnern, doch je weiter der Tag fortschreitet, umso mehr verblassen sie.
Das Leid meiner Mutter und aller, die diesem vor Ort unmittelbar ausgesetzt waren, lässt sich nicht in Worte fassen. Alle müssen sie, müssen wir selbst und auf unsere Weise mit den letzten drei Jahren und dem finalen Schlag zurechtkommen. Für mich ist der Austausch mit anderen dabei wichtig, ohne Erwartung oder Anspruch auf eine Lösung, die es nicht gibt. Einfach nur ein offenes Ohr tut gut, das sich die eigene Wut über die maßlose wie gleichgültige Ungerechtigkeit des Universums anhört. Genauso das Innehalten, die Besinnung und auch die haltlose Trauer, allein oder im tröstenden Arm eines lieben Menschen.
Was ich nicht brauche, ist jegliches Gerede über irgendeinen Gott, der den fürchterlichen letzten Weg meiner Mutter angeblich geplant hat und den zu hinterfragen uns Menschen in unserer Unzulänglichkeit nicht zusteht. Ja, ich musste mir anhören, wir dürften nicht fragen „Warum?“, weil wir gar nicht in der Lage wären, Gottes Beweggründe zu verstehen. Ich sag euch was, die ihr blind wie die Lemminge alles hinnehmt, was euch euer Gott nicht erklären mag: Lasst mich mit diesem Quatsch in Frieden. Und an dieser Stelle übe ich noch höfliche Contenance, schließlich ist das ein öffentlicher Blog.
Was bleibt
Gedanken treiben mich um, ob meine Mama das Leben geführt hat, das sie wollte. Jedes Mal, wenn ich am Meer stehe, wie zuletzt Ende September am Darßer Weststrand, frage ich mich mit den Füßen im Sand und Tränen in den Augen, ob sie je den Wunsch verspürt hat, die Wellen und den Wind so zu betrachten und eins zu sein mit den Elementen. Oder ob es tatsächlich ihre Erfüllung war, vier eigene Kinder in die Welt zu begleiten und noch Neffen, Nichten und Enkel auf dieselbe liebevolle Weise auf das Leben vorzubereiten. Dies will ich glauben, dass meine Mama ihr Leben in den ihr zugedachten Rahmen und Möglichkeiten genau so gelebt hat, wie es uns diese Selbstverwirklichungs-Gurus immer predigen, nämlich erfüllend und am Ende zufrieden.
Dazu gehören schlaflose Nächte mit quengelnden Kindern, aber auch deren glückliches Lachen draußen auf dem Hof, gute Schulnoten und erfolgreiche Ausbildungen, der selbst bewirtschaftete Garten, unzählige Rührkuchen (die sie im Küchenfenster zum Auskühlen hinstellte und sich nicht selten darüber wunderte, dass eine Stunde später schon ein Stück fehlte). Die Freitagabende mit den Kindern bei Pommes und Würstchen, all die Blumen auf dem Hof im Frühjahr und Sommer, diese ganzen Dinge und noch viele mehr bleiben und drängen sowohl das Übel ihrer letzten Jahre beiseite als auch die Zweifel hinsichtlich höherer Ambitionen, anderer Ziele. Und das lässt mich versöhnt zurück mit dem Gefühl, dass auch ich mein Leben so führe, wie ich es möchte und sie es gewiss gut fand.
Es gäbe noch so viel mehr zu schreiben, für mich und für andere, über diese warmherzige Frau, die vor sich selbst immer erst für andere da war, aber ich will es dabei bewenden lassen.
Danke, Mama, wir sehen uns auf der Lichtung am Ende des Pfades
It’s safe out there now your everywhere, just like the sky
And you are love, you are the love supreme, you are the rise
And when you hear this you’ll know it’s your jam, it’s your goodbye
― Red Hot Chili Peppers – Brendan’s Death Song