Auf die Lebenden und die Toten

Am Dienstag hatte ich Geburtstag. Viele meiner Freunde bei Facebook wurden über die eiskalt agierenden Automatismen des Konzerns darüber in Kenntnis gesetzt und bescherten mir über den Tag verteilt einige Dutzend Glückwünsche auf meiner Pinnwand. In einer digitalisierten Welt ist das normal geworden, und ich mag diese kurzen Grüße, die von meinen Freunden und Bekannten in wenigen Sekunden verfasst und abgesendet werden. Ohne den bei ihnen aufploppenden Hinweis bekäme ich diese Zeichen zum Teil nicht, da den meisten mein Geburtsdatum nicht bekannt ist. Einige in meiner Freundesliste habe ich schon seit Jahren nicht gesehen, und sie haben erst durch Social Media wieder ein Gesicht mit vielen Erinnerungen an gemeinsame Zeiten erhalten. Meine näheren Bekanntschaften bevorzugen im Übrigen den direkten Kontakt, um mir ihre Wertschätzung zu zeigen.

Gestern Morgen saß ich dann auf der anderen Seite, wurde an den Geburtstag eines ehemaligen Mitschülers aus Abizeiten erinnert, mit dem ich den einen oder anderen Kurs gemeinsam besucht habe. Noch ganz beseelt von den lieb gemeinten Zeilen, die mir tags zuvor zugestellt wurden, tat ich es den Schreibern gleich und sandte einen kurzen Gruß an die Pinnwand meines früheren Mitstreiters.

Nur wenige Minuten später wurde mein Post von einer seiner Verwandten kommentiert, die sich für den Gruß bedankte, dann aber sinngemäß hinzufügte: Er hätte sich sicher darüber gefreut, leider sei er jedoch im vergangenen Frühjahr an Krebs gestorben.

Noch Stunden später sitze ich hier an meinem PC und versuche, diese Nachricht zu verdauen.

Das eine oder andere Gespräch haben wir damals geführt, mal witzig, mal ernst. Und in den vergangenen fast 25 Jahren haben wir uns praktisch kaum ausgetauscht. Dennoch: Mag es die Wucht des Unerwarteten sein, mit der mir diese Nachricht in die Magengrube gefahren ist, oder der tatsächliche Verlust eines weit, weit entfernten Bekannten, es trifft mich und stellt so manches in Frage.

Es wurden schon Artikel dazu verfasst, die sich diesem Thema von verschiedenen Seiten nähern (s.u.). Bisher hielt ich solche Vorkommnisse für ein Kuriosum unserer heutigen vernetzten Welt. Wie bei vielen anderen Ereignissen im Leben gerät man erst ins Grübeln, sobald sie einen selbst ereilen. Wie geht man damit um? Müssen wir lernen, wieder bewusster mit den Beziehungen zu unseren Mitmenschen umzugehen, seien sie auch noch so weit weg? Oder eher nicht, weil wir diese Menschen ja früher auch aus den Augen verloren haben – warum jetzt Gedanken und Zeit an sie verschwenden?

Die Hilfsmittel des digitalen Zeitalters bringen uns ganz sicher wieder näher zueinander. Allerdings verschlingen sie auch an anderen Stellen dermaßen viel Zeit, dass wir für all die Menschen, zu denen wir Beziehungen pflegen wollen, immer weniger davon erübrigen und uns auf lapidare Phrasen zu bestimmten Anlässen beschränken, an die wir durch die genannten Mittel noch erinnert werden müssen. Es hilft, lockeren Kontakt zu halten, aber wie viel sind uns solche Verbindungen tatsächlich wert?

Wenn wir beim größten Netzwerk der Welt von „Freunden“ sprechen, sollten wir uns hin und wieder auf die Bedeutung des Wortes „Freundschaft“ besinnen. Meyers Großes Konversations-Lexikon definiert Freundschaft als „das auf gegenseitiger Wertschätzung beruhende und von gegenseitigem Vertrauen getragene freigewählte gesellige Verhältnis zwischen Gleichstehenden“. Das klingt ein wenig angestaubt, und mancher mag darauf pochen, diese Definition vor dem Hintergrund von globaler Vernetzung neu formulieren zu müssen. Doch sind die genannten Merkmale zeitlos und lassen sich ohne Weiteres heute noch anwenden: Wertschätzung, gegenseitiges Vertrauen, das gesellige Verhältnis zwischen Gleichstehenden. Ob die Geselligkeit in der Kneipe um die Ecke oder im Chat eines Social Networks stattfindet, ist dabei eben auch „frei wählbar“.

Auch und gerade eine solche Online-Freundschaft will gepflegt sein und darf nicht bloß aus einem Eintrag in einer Datenbank bestehen, der einmal im Jahr durch eine automatisierte Abfrage ans Tageslicht befördert wird. Das bedeutet nicht, dass ich nun einige meiner Freunde aus meiner Liste entferne. Den nächsten Geburtstagsgruß werde ich aber nicht nur nebenbei raushauen, sondern bewusst mit den besten Gedanken verfassen und an den Empfänger absenden.

In diesem Sinne: Mach’s gut, alter Freund!

Stuttgarter Nachrichten: Die besten Glückwünsche für einen Toten (5.4.2016)

Westfälische Nachrichten: Herzlichen Glückwunsch, toter Freund! (22.1.2015)

Ein Kommentar

  • Das ist sehr schön geschrieben und enthält einige sehr weise Erkenntnisse, die wir uns immer mal wieder bewusst machen sollten. Auch wenn diese Nachricht, die zu dem Artikel geführt hat, natürlich sehr traurig ist.