„scheisse“ ist kein Adjektiv

In den vergangenen paar Wochen erreichten mich zwei geschäftliche E-Mails, in denen bestimmte Darstellungen auf Webseiten bemängelt wurden. Es handelte sich dabei nicht um gravierende Fehler: Das eine war so vom Grafiker entworfen, das andere durch die gewachsene Zahl von Beiträgen verursacht. Der Inhalt der E-Mails bzw. deren Ursache sind auch nicht Thema dieses Posts, sondern vielmehr deren Formulierung. Zitat:

Sieht scheisse aus

Zitat Ende.

Dass der Informationsgehalt der Aussage praktisch nichts zur Lösung des Problems beiträgt, muss ich an dieser Stelle nicht erklären. Es bedurfte dann einer sachlichen Rückfrage, um hier aktiv werden zu können.

Dabei habe ich es belassen. Ich pflege gute Beziehungen zu meinen Kunden und weiß, dass es diesen, den Beziehungen, wenig förderlich ist, die obige unglückliche Formulierung zu bemängeln. Allerdings stellt sie den berühmten Tropfen dar, der mein Fass der orthographischen Duldsamkeit zum Überlaufen bringt. Und diesem Gemütszustand möchte ich hiermit Ausdruck verleihen.

Um das klarzustellen: Mir geht es hier nicht um den Niedergang der Sprache in irgendwelchen Messengern wie WhatsApp, Skype usw. Dass einem auf der winzigen Tastatur eines Touch-Displays die Buchstaben daneben gehen, die Worterkennung mal wieder wundersame Stilblüten treibt oder ein kurzes „treffen in 10 min.“ dem Schreiber keine umfangreiche Prosa abnötigt, ist vollkommen legitim, da nehme ich mich nicht aus. Ehre und Respekt gebühren dem, der sogar dort Sorgfalt walten lässt.

Zum Gruße, liebe Gemeinde

Die Erfindung des Internets bedeutete jedoch nicht die Befreiung von allen Standards zwischenmenschlichen Informationsaustauschs. „E-Mail“ bedeutet elektronische Post und sollte meines Erachtens auch so verstanden werden. Eine E-Mail darf mit einem freundlichen „Hallo“ beginnen, gern mit einem „Hi“, je nachdem, ob man gemeinsam schon mal einen gehoben hat oder nicht. Und ans Ende gehört wenigstens ein „Gruß“, ob es ein freundlicher, ein schöner, viele davon, der beste oder ein hochachtungsvoller ist, sei jedem selbst überlassen. Das hängt sicher auch von der Beziehung zum Adressaten und dem Inhalt der E-Mail ab.

Also: Es sind nur ein paar Tastenanschläge mehr, die angesichts der Geschwindigkeit, die manche Mitmenschen beim Tippen an den Tag legen, nicht ins Gewicht fallen dürften. Und ja, da bin ich konservativ: Ein „MfG“ hat in einer Geschäftsmail nichts verloren.

ohne punkt und komma und grossschreibung

Einige Genossen treiben den unausgesprochenen Effizienzhype „Zeit ist Geld“ noch weiter und verzichten gänzlich auf die Benutzung der Umschalttaste („Shift“). heraus kommen sätze wie dieser, ja, dieser, den sie gerade lesen. Hallo? Ich habe Ende der Achtziger Jahre einen Schreibmaschinenkurs besuchen dürfen, in dem während des Erlernens des Zehn-Finger-Schreibens die genannte Taste bis zum Verkrampfen der kleinen Finger benutzt wurde. Und das soll jetzt umsonst gewesen sein?

Es gibt nicht wenige Menschen, die für einen völligen Verzicht auf Großbuchstaben plädieren. Ich sehe durchaus einen Vorteil darin, da die deutsche Sprache etliche willkürlich wirkende Regeln in diesem Bereich beherbergt, die Millionen von Schülern an den Rand der Verzweiflung bringen. Da gäbe es sicher Nachbesserungsbedarf. Wenn ich allerdings ein Buch läse oder eine Zeitung, die komplett auf Versalien verzichteten, würde ich diese Schriftwerke sicher meiden. Eine individuelle Sprache und Schrift ist eine Art Kulturgut, das durchaus pflegenswert ist. Punkt.

Wenn wir schon beim Lesen und den Punkten sind: Es schult, das Lesen. Jeder gelesene korrekte Satz trägt minimal dazu bei, den eigenen Schreibstil zu verbessern. Dennoch finden sich immer wieder Texte, in denen nach Punkten und Kommas, sofern sie überhaupt (korrekte) Verwendung finden, die Leerzeichen fehlen, wo Satz an Satz gereiht wird, ohne einmal Luft zu holen. Die Lektorin meines Buches „Ohne Grenzen“ hat mir aus diesem Grund unzählige Passagen absolut berechtigt angekreidet. Tipp: Abgesehen von der allgegenwärtigen Rechtschreibprüfung würde das nochmalige Lesen der eigenen Nachricht bestimmt den einen oder anderen Lapsus calami eliminieren.

Shit happens

Natürlich finde ich auch nicht immer alles prickelnd, was im Internet so fabriziert wird. Wenn in den unendlichen Weiten des WWW alles perfekt wäre, hätte ich ja wenig bis gar nichts zu tun.

Aber muss man denn sein Missfallen über die banalsten Kleinigkeiten derart oft mit solch uninspirierten Kraftausdrücken äußern, Menschen gegenüber, die man fast nicht kennt? Und dann auch noch grammatisch schlicht und ergreifend falsch? „scheisse“ ist kein Adjektiv, es ist ein Substantiv (hat was mit Substanz zu tun, man kann es also anfassen – muss man aber nicht). Das Wort wird nach neuer deutscher Rechtschreibung mit scharfem S und nicht mit doppeltem S geschrieben. Es sei denen gestattet, welche die entsprechende Taste auf der Tastatur tatsächlich nicht haben, beispielsweise in der Schweiz. Die eingangs erwähnten Fehler sind also bestenfalls „beschissen“.

Sprache, und besonders die deutsche, kann so vielfältig, abwechslungsreich und interessant sein, da bluten einem bei derlei linguistischen Flachgewässern wirklich die Ohren. Ich hoffe, dass das Medium Internet mit all seinen Auswüchsen neben den Vorteilen, die es uns gebracht hat, in Zukunft nicht noch zu einer weiteren Degeneration unseres Kommunikationsniveaus führt.

Ergänzung

Prompt wurde ich auf sehr nette Art darauf hingewiesen, dass „scheiße“ tatsächlich doch ein Adjektiv ist. Sogar in den Duden hat es bereits Einzug gehalten: http://www.duden.de/rechtschreibung/scheisze

An meiner Haltung zur Verwendung ändert das jedoch nichts.