Verpasste Gelegenheiten
Lebensmitte, sparen wir uns das verschwurbelte Philosophieren über die Midlife-Crisis. Darüber bin ich hinweg, denke ich. Und was ist nicht schon alles verfasst worden über den ersten Tag vom Rest des eigenen Lebens. Bücher, Songs, Doktorarbeiten, Bilder, Brillantes und Schwachsinniges.
Doch es treibt mich um, öfter und länger, und vielen anderen mag es genauso gehen, auch wenn sie es nicht aussprechen. Irgendwann kommt die Frage danach, was man bisher erreicht hat und ob es das ist, was man wollte. Konsequent drängelt sich die logische Anschlussfrage ins Bewusstsein: Kann und sollte man mit aller Vehemenz etwas ändern, wenn das Erreichte nicht das Gewünschte oder Erwartete darstellt?
Als Kind wollte ich werden, was alle Jungs werden wollten: Astronaut, Pilot, und wenn nicht wenigstens das, dann Lokomotivführer. Nun bin ich zwar ein zielstrebiger, aber doch latent chaotischer Typ, der sich einerseits allzu gern von den Versuchungen abseits des Weges locken und andererseits auch gern mal treiben und überraschen lässt. Deshalb atme ich heute keine Luft aus einem Tornister und habe auch keinen Plan, wie so eine E-Lok funktioniert. Bin ich deshalb unzufrieden? Nein, denn mit dem, was ich erreicht habe, bin ich mehr als happy. Ich habe bereits viele schöne Flecken auf diesem Planeten gesehen und Dinge erlebt, die anderen wahrscheinlich für immer verwehrt bleiben.
Neulich kam das Gespräch einmal wieder auf Sonnenfinsternisse: Ich pflege ein Faible für die Astronomie – wenn ich schon nicht Raketen besteige, betrachte ich die stellaren Gefilde wenigstens vom Boden aus. Am 11. August 1999 fand ein solches Ereignis über Süddeutschland statt. Während der Zeit war ich für ein Bankhaus in Frankfurt als Landschaftsgärtner und, nun ja, Hausmeister, Parkverwalter, Multitool tätig, und es stand im Spätsommer ein wichtiges Ereignis auf dem Parkgelände an, bei dem ein Festzelt aufgebaut werden sollte. Zu Planungszwecken war meine Anwesenheit zu dem Termin am oben genannten Datum erforderlich, den ein Mitarbeiter des Zeltverleihs und meine damalige Vorgesetzte ausgemacht hatten. Ich mache den beiden keinen Vorwurf zu ihrer Unkenntnis oder dem offensichtlichen Desinteresse an dem historischen astronomischen Ereignis. Während wir jedoch dort auf der Terrasse standen und die Ausrichtung und Dimensionen des Zelts diskutierten, wanderte mein Blick immer wieder hinauf zur nur teilverfinsterten Sonne, und abgesehen vom Kies unter meinen Schuhen knirschten meine Zähne. 150 Kilometer, also knapp zwei Autostunden weiter südlich waren Millionen von Menschen völlig geplättet. Und ich war nicht dabei.
Inzwischen liegt der Job bei der Bank sechzehn Jahre hinter mir, ich habe beruflich eine ganz andere Richtung eingeschlagen und habe auch Frankfurt und all die Menschen dort zurückgelassen. Mit Blick auf den damaligen Tag frage ich mich heute, ob ich nicht lieber hätte auf einen Urlaubstag und die Verschiebung des Termins bestehen sollen. Wie auch immer, heute würde ich es tun.
Im Frühjahr 2008 starb mein Opa an einem Krebsleiden, und einen Tag nach seiner Beerdigung bin ich in den Urlaub geflogen. Wir haben diesen nicht gecancelt, weil mein Opa das sicher auch nicht gewollt hätte, aber die sieben Tage auf Mallorca waren natürlich geprägt von Gedanken an sein Leben und seine letzten Tage. Am Strand Es Trenc fragte ich mich, ob mein Opa wohl in seinem arbeitsreichen Leben einmal das Meer gesehen hat, und wenn nicht, ob er es als verpasste Gelegenheit gewertet hätte. Meine Frau sagte dazu, manche Menschen seien mit dem zufrieden, was sie besäßen und erlebt hätten, ohne etwas zu vermissen. Das versöhnte mich.
Für meinen Teil möchte ich nie das Gefühl haben, Dinge nicht getan und permanent verschoben zu haben, weil anderes vermeintlich wichtiger ist. Das betrifft Besuche bei der Familie und Freunden ebenso wie so nichtige Ereignisse wie Sonnenfinsternisse.
Deshalb: Rechnet nicht mit mir am 12. August 2026, da bin ich in Spanien.
Ich kenne dich nicht so gut, aber trotzdem denke ich, du müsstest dir nicht so viele Gedanken über Verrpasstes machen. Läuft doch insgesamt alles gut oder? Einmal Zweifel hab ich miterlebt. Hab sie dir ausgeredet und recht behalten. Trifft vermutlich auch auf anderes zu. Du Coder Blogger Musiker Reisender Denkender… Was willst du denn sonst noch machen. OkeeOkee, Pilot vielleicht noch. Das würde verstehen. Viele Grüße!
Zweifel gibt es – sicher nicht nur bei mir – immer wieder. Aber um die ganz großen Dinge im Leben geht es hier auch gar nicht. Da läuft es tatsächlich außerordentlich gut, wozu einerseits viele Menschen beigetragen haben (manche ohne es zu wissen oder zu wollen), andererseits ich selbst derjenige bin, der den A… hochbekommen hat.
Gemeint sind auch und insbesondere die kleinen Gelegenheiten, die man wegen anscheinend wichtigen anderen Umständen vorbeiziehen lässt. Und darunter sind hin und wieder welche, die einmalig sein können.
Interessante Fragen ganz am Anfang. Ich bin der Meinung, in unserem Alter kann und soll man noch was ändern, wenn es nicht passt. Es stellt sich eher die Frage, will man noch was ändern, oder ist man im Lauf der Jahre zu bequem geworden und hat sich mit den Dingen arrangiert. Das wäre die schlechtere Variante.
Ich für meinen Teil habe begriffen, das sich nur was ändern kann, wenn ich es will und aktiv angehe.
Und das heißt tatsächlich auch, sein Auge mal auf die Kleinen Dinge des Lebens zu richten, denn dabei kann man Glück erst richtig begreifen.
Im übrigen, ich muss 2026 nicht nach Spanien, ich durfte 1999 erleben….
Schönen Gruß aus Nordhessen!