Schnell mal meine Meinung sagen

Dieser Beitrag könnte gerade als Fortsetzung meines Posts „An die Gutmenschen“ herhalten. Bisher habe ich die allgegenwärtige Diskussion um die Flüchtlingsproblematik sehr interessiert, aber eher zurückhaltend verfolgt. Flüchtlingslager in der Türkei, Boote auf dem Mittelmeer, Pegida, Angriffe auf (geplante) Unterkünfte in Deutschland, Prominente, die sich für Flüchtlinge stark machen und mit massiven Shitstorms honoriert werden – es vergeht kein Tag, an dem nicht Dutzende neuer Meldungen publiziert werden.

Freunde und Bekannte teilen in Gesprächen bis auf wenige unverbesserliche Ausnahmen meine Ansichten: Reduziert auf die Einzelschicksale ist der Flüchtlingsstrom eine Katastrophe, deren Bekämpfung eine unsägliche Mammutaufgabe für Hilfsorganisationen, Freiwillige und Regierungen ist. Besonders Letztere sehe ich persönlich in der Pflicht: sowohl bei der Lösung der Ursachen als auch in der Bewältigung der momentanen hiesigen Situation. Das ist aber nicht der eigentliche Anstoß für diesen Beitrag.

Mal wieder Facebook

Gestern wurde ich auf meiner FB-Pinnwand auf einen Post aufmerksam, den ich dann doch nicht unkommentiert lassen wollte, besser gesagt, den Kommentar zu dem Post. Nebenbei und wichtig: Der Kommentar stammte nicht von einem meiner FB-Freunde.

Es geht um Walter Sittlers Vorschlag, die Bürger sollten 0,5% ihres Jahresbruttogehalts für Flüchtlinge an „erfahrene Organisationen“ spenden. Gehört hatte ich von diesem – wie gesagt – Vorschlag bereits, und hatte schon geahnt, dass ihm ähnliche Reaktionen folgen würden wie den Äußerungen Til Schweigers sowie dessen Plänen, ein Flüchtlingsheim bauen zu wollen. Neuestes Angriffsziel ist Farin Urlaub, der ebenfalls nicht auf den Mund gefallen ist.

Der Kommentar beschränkte sich auf die pauschale Frage: „Hat der noch alle Latten am Zaun?“ Die folgenden Kommentare dazu variierten zwischen unreflektierter Zustimmung, ernst gemeinten Rechenbeispielen (Prozentrechnung) bis zu vehementer Verurteilung. Ich las erst einmal den zugehörigen Artikel. Der war bedauernswerterweise auf gar keine Weise subtil oder gar nur kritisch, sondern offensiv ablehnend und gegenüber dem Schauspieler gar beleidigend. Die Kommentare unter diesem Artikel rundeten die Seite ab und strotzten mehrheitlich von verbalen Entgleisungen und teilweise fast unverhülltem Hass.

Die Mühe war es mir dann doch wert, folgenden Kommentar bei FB zu hinterlassen:

Handyvertrag (http://www.teltarif.de/internet-telefon-handy-kosten-durchschnitt-haushalt/news/55237.html), Zigaretten (24,8 Mrd. €/Jahr, http://www.dhs.de/datenfakten/tabak.html), Alkohol, Kirchensteuer (8-9%), Auto, … (bedarfsweise zu ergänzen) – es wird soviel ausgegeben jeden Monat, und da wird herumgeplärrt wegen 10€? Ich bekomme Bauchschmerzen …

Hinweis: Die 10€ hatte ein anderer User auf Basis von 2000€ Einkommen ausgerechnet.

Prompt kam die Antwort, die dann doch zumindest einen Teil der Intention des Posters durchblicken ließ: Familienvater, hart arbeitend, nie arbeitslos, und dennoch bleibt der Kampf um Wohlstand ein harter und scheinbar wenig aussichtsreicher. Schuld an der Misere sei der Staat, und man solle doch besser die bereits vorhandenen Steuergelder in sinnvolle Projekte vor Ort stecken, um dort die Ursachen zu bekämpfen, statt sie milliardenweise in Baugruben zu versenken. Und noch weitere Themen wurden angedeutet, die mir dann doch zeigten, dass der Schreiber sich mit dem ganzen Komplex auseinandersetzt: Sinnlosigkeit von Waffenlieferungen, Alterspyramide, …

Ich ließ ihn dann wissen, und das meine ich ernst, dass ich mir als eröffnenden Kommentar genau diese Infos gewünscht hätte, um die Motivation für derlei einsilbige Parolen wenigstens ansatzweise begreifen zu können. Was nicht bedeutet, dass ich seine Gesinnung gutheiße. Ich beließ es abschließend bei einem Friedensangebot à la „jedem seine Meinung“, da er die Fronten zwischen den Parteien dieser Diskussionsrunde als verhärtet bezeichnete.

Schnellschuss aus dem Schatten

Es macht mir ein wenig Angst, in welchem Umfang, mit welcher Aggressivität und vor allem wie unverblümt auf einschlägigen Plattformen Menschen Ihre Meinung kundtun. Natürlich genießen wir in diesem Land das Recht auf Meinungsfreiheit. Leider erhalten aber seit Erfindung des Internets und der dort möglichen Anonymität Stimmen ein Sprachrohr, die früher nur hinter vorgehaltener Hand zu hören waren. Bei Durchsicht der frei zugänglichen Kommentarliste des genannten Artikels liest man keinen einzigen vollständigen realen Namen. Und bei Facebook publiziert auch praktisch niemand öffentlich seine Meinung, abgesehen von den wirklich Radikalen oder der mutigen Gegenseite.

Die Gefahr sehe ich hier in der möglichen Verselbständigung dieser Tendenzen: Trotz aller Möglichkeiten, sich über verschiedene Kanäle ein umfassendes Bild von komplexen Sachverhalten machen zu können, liegt es immer mehr Menschen näher, eine allgemeine Grundstimmung zu ihrer eigenen zu machen und diese ebenso verallgemeinernd zu äußern. Oder schlimmer: sie zu destillieren, zu potenzieren, mit anderen, eventuell fremden Inhalten zu vermischen und zu verstärken.

Mag es Bequemlichkeit sein oder die schiere Unüberschaubarkeit aller Informationen: Leider werfen nicht alle Menschen einen Blick über den Tellerrand. Wir leben in einer Welt, die einem steten, immer schneller stattfindenden Wandel unterworfen ist, bei dem mancher technologisch auf der Strecke bleibt. Man kann aber Menschen, die in der Lage sind, eine Internetverbindung herzustellen und auf einer großen Plattform einen Account zu beantragen, durchaus zumuten, dass sie sich anderen gegenüber respektvoll verhalten, ihre wie auch immer geartete Meinung in klaren Worten unter ihrem eigenen Namen kundtun und sich vorher ihre Gedanken dazu machen, was sie damit bewirken und bezwecken. Allein das Hochhalten eines digitalen Schildes mit der Aufschrift „Ich bin dagegen!“ verfehlt hier das Ziel.

Die vierte Macht im Staat ist darüber hinaus mehr denn je gefordert, unabhängig zu recherchieren und aufzuklären, um derartigen Strömungen entgegenzuwirken. Und jeder Einzelne sollte den Mumm aufbringen, Äußerungen wie den oben genannten Kommentar in Frage und den Kommentator zur Rede zu stellen.

Quellen:

Der Artikel, auf den sich der Facebook-Post bezieht:
https://www.netzplanet.net/schauspieler-walter-sittler-fordert-halbes-prozent-vom-jahresgehalt-fuer-fluechtlinge-spenden/

Shitstorm gegen Farin Urlaub:
http://www.berliner-zeitung.de/panorama/fluechtlingsdebatte-shitstorm-gegen-farin-urlaub,10808334,31374438.html